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Der Fall Collini

Der Fall Collini

Titel: Der Fall Collini
Autoren: Ferdinand von Schirach
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gefunden. Würden Sie sagen, dass diese, von Ihnen genannte Voraussetzung erfüllt ist?«
    »Ja, das würde ich.«
    »Hans Meyer lässt auf übergeordneten Befehl zwanzig Partisanen erschießen. Das Verhältnis betrug 1:10. War die Quote zu hoch, oder war das noch erlaubt?«
    »Das kann ich nicht eindeutig sagen. Wahrscheinlich wird man sie noch als erlaubt ansehen müssen.«
    »Aber«, sagte Mattinger, »die Gerichte haben verboten, Frauen und Kinder zu erschießen, oder?«
    »Ja. Das war nie erlaubt. In all diesen Fällen wurden die Täter verurteilt.«
    »Hier waren es nach der Akte nur erwachsene Männer. Der Jüngste war vierundzwanzig Jahre alt. Also auch das erlaubte das Völkerrecht?«
    »Ja.«
    »Wurden Ihrer Kenntnis nach die Männer zuvor gefoltert, um etwas von ihnen zu erfahren – was natürlich ebenfalls verboten wäre?«
    »Nein. Dazu gibt es in der Akte keine Aussagen.«
    »Wurde die Erschießung der Partisanen veröffentlicht?«, fragte Mattinger.
    »In der Akte befinden sich Artikel dazu aus drei lokalen Zeitungen. Das dürfte nach den Grundsätzen des Völkerrechts ausreichen.«
    Mattinger wandte sich an das Gericht. »Mit anderen Worten: Alle Kriterien, die die Sachverständige genannt hat, wurden erfüllt.« Er zog seine Brille ab und legte die Akten vor sich zur Seite. »Frau Dr. Schwan, wurde denn überhaupt jemals ein Verfahren gegen Hans Meyer geführt?«
    »Ja.«
    »Ja?« Mattinger tat so, als sei er überrascht. »Die Staatsanwaltschaft hat tatsächlich gegen Hans Meyer ermittelt?«
    »Ja, die Staatsanwaltschaft in Stuttgart.«
    »Wann war das?«
    »1968, ’69.«
    »Und kam es zu einer Verurteilung von Hans Meyer?«
    »Nein.«
    »Nein? … Wurde er angeklagt?«
    »Nein.«
    »Wurde er überhaupt einmal vernommen?«
    »Nein.«
    »Ah ja, ich verstehe.« Mattinger drehte sich auf seinem Stuhl halb zur Zuschauer- und Pressebank. »Er wurde noch nicht einmal vernommen … Das ist interessant … Obwohl also die Staatsanwaltschaft Stuttgart ein Verfahren gegen Hans Meyer wegen dieser Vorwürfe führte, obwohl ermittelt und eine Akte angelegt wurde, wurde er weder angeklagt noch verurteilt. Wir haben ja eben gehört, dass Hans Meyer alle Kriterien einer erlaubten Geiselerschießung erfüllte. Deshalb meine abschließende Frage, Frau Dr. Schwan: Was passierte mit dem Verfahren gegen Hans Meyer?«
    »Es wurde eingestellt.«
    »Ganz richtig, das Verfahren wurde eingestellt«, sagte Mattinger. »Am 7. Juli 1969 stellte die Staatsanwaltschaft Stuttgart die Ermittlungen gegen Hans Meyer ein.«
    »Das trifft zu.« Die Sachverständige sah hilfesuchend zu Leinen. Er nickte kaum merklich.
    »Danke, Frau Dr. Schwan.« Mattinger wandte sich an das Gericht. »Ich habe keine weiteren Fragen an die Sachverständige.« Er hatte gewonnen: Hans Meyer war kein Mörder mehr. Mattinger lächelte.
    »Wir unterbrechen jetzt für die Mittagspause«, sagte die Vorsitzende.
    Leinen drehte sich zu Collini, dessen Kopf war gebeugt, die Hände lagen schwer in seinem Schoß. Der große Mann hatte geweint.
    Mattinger hatte nur zwei Stunden gebraucht, um Collinis Vater noch einmal zu töten.
    »Es ist noch nicht vorbei«, sagte Leinen. Collini reagierte nicht.
    Vor dem Saal beantwortete Mattinger die Fragen der Presse. Leinen ging an ihm vorbei nach draußen. Auf dem Bürgersteig standen Reporter, einer lief ihm kurz hinterher, aber Leinen beachtete ihn nicht. In einer Seitenstraße blieb er stehen, ließ die Tasche fallen und lehnte sich an die Häuserwand. Ein Krampf im Oberschenkel ließ nur langsam nach. Leinen ging an einem Seitengebäude des Gerichts vorbei, er wollte in den kleinen Park. Auf der hohen Ziegelmauer in der Wilsnackerstraße sah er eine Gedenktafel, sie war ihm zuvor nie aufgefallen: »Der Wahn allein war Herr in diesem Land«, ein Auszugaus den Moabiter Sonetten von Albrecht Haushofer. Haushofer hatte das Gedicht im Gefängnis geschrieben, 1945 wurde er von den Nazis erschossen. Leinen ging durch den Eingang, dahinter lag ein winziger Notfriedhof. Die Stadt hatte eine Betonstele aufgestellt: »Sie starben bei Kampfhandlungen, im Luftschutzkeller, beim Beschaffen des Lebensnotwendigen, durch Genickschuss oder begingen Selbstmord.« Er setzte sich auf eine Bank. Dreihundert Tote aus den letzten Kriegstagen lagen hier, ein unwirklicher Ort mitten in der Stadt.
    Leinen konnte sich den Krieg nicht vorstellen. Sein Vater hatte von der Kälte erzählt, von Krankheiten und Schmutz, von eisenbehangenen Soldaten,
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