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Der Fall Collini

Der Fall Collini

Titel: Der Fall Collini
Autoren: Ferdinand von Schirach
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mein Mandant?«, fragte Leinen den Wachtmeister. Der Mann in der graublauen Uniform schüttelte den Kopf. Leinen wollte ihn gerade fragen, was das heißen solle, als die Vorsitzende Richterin in den Saal kam.
    »Guten Morgen«, sagte sie, »bitte setzen Sie sich.« Sie klang heute anders als sonst. Sie wartete im Stehen,bis die Prozessbeteiligten, die Pressevertreter und Zuschauer sich beruhigt hatten.
    »Frau Vorsitzende, mein Mandant ist noch nicht anwesend, er ist nicht vorgeführt worden. Wir können nicht anfangen«, sagte Leinen.
    »Ich weiß«, sagte sie leise zu ihm, fast sanft. Sie wandte sich dann an die Prozessbeteiligten und Zuschauer im Saal. »Der Angeklagte Fabrizio Maria Collini hat sich in der vergangenen Nacht in seiner Zelle das Leben genommen. Der Gerichtsmediziner hat seinen Tod um zwei Uhr vierzig festgestellt.« Sie wartete, bis alle verstanden hatten. »Ich habe daher folgenden Beschluss zu verkünden: Das Verfahren gegen den Angeklagten wird eingestellt. Die Kosten und notwendigen Auslagen trägt die Staatskasse.«
    Irgendwo fiel ein Stift runter, er rollte über den Boden, das einzige Geräusch im Saal. Die Protokollführerin begann zu tippen. Die Vorsitzende wartete. Dann sagte sie: »Meine Damen und Herren, die Sitzung der 12. Großen Strafkammer ist damit geschlossen.« Die Richter und Schöffen standen beinahe gleichzeitig auf und verließen den Verhandlungssaal. Es ging sehr schnell. Oberstaatsanwalt Reimers schüttelte den Kopf und schrieb etwas in seine Handakten.
    Die Journalisten rannten aus dem Saal, um ihre Zeitungen, ihre Radio- und Fernsehsender anzurufen.Leinen blieb sitzen. Er betrachtete den leeren Stuhl, auf dem Collini immer gesessen hatte, der Stoff war an den Seiten dünn geworden. Ein Wachtmeister gab Leinen einen Umschlag mit der Aufschrift »Verteidigerpost«. Er war noch verschlossen.
    »Von Ihrem Mandanten, lag auf dem Tisch«, sagte der Wachtmeister.
    Leinen riss den Umschlag auf. Er enthielt nur ein Foto, eine kleine Schwarz-Weiß-Aufnahme, brüchig und ausgeblichen, gezackter weißer Rand. Das Mädchen auf dem Bild war vielleicht zwölf Jahre alt, sie trug eine helle Bluse und sah sehr angestrengt in die Kamera. Leinen drehte es um. Auf der Rückseite stand in der ungelenken Schrift seines Mandanten: »Das ist meine Schwester. Entschuldigung für alles.«
    Leinen stand auf, strich über die Lehne des Stuhls und packte seine Sachen zusammen. Er verließ das Gericht durch einen Seitenausgang und fuhr nach Hause.
    Johanna saß auf den Stufen vor seinem Haus, den Kragen des dünnen Mantels hatte sie hochgeklappt und hielt ihn vorne zusammen. Ihre Hand war weiß. Leinen setzte sich neben sie.
    »Bin ich das alles auch?«, fragte sie. Ihre Lippen zitterten.
    »Du bist, wer du bist«, sagte er.
    Auf dem Spielplatz vor dem Haus stritten sich zwei Kinder um einen grünen Eimer. In ein paar Tagen würde es wärmer werden.

Anhang
§ 50 StGB lautete bis zum 30. September 1968:
Art. 1 Nr. 6 des Einführungsgesetzes zum OWiG trat am 1. Oktober 1968 (BGBl. I, 503) in Kraft. Danach galt § 50 StGB in folgender Fassung:
(1) Sind mehrere an einer Tat beteiligt, so ist jeder ohne Rücksicht auf die Schuld des anderen nach seiner Schuld strafbar.
(1) Sind mehrere an einer Tat beteiligt, so ist jeder ohne Rücksicht auf die Schuld des anderen nach seiner Schuld strafbar.
(2) Fehlen besondere persönliche Eigenschaften, Verhältnisse oder Umstände (besondere persönliche Merkmale), welche die Strafbarkeit des Täters begründen, beim Teilnehmer, so ist dessen Strafe nach den Vorschriften über die Bestrafung des Versuchs zu mildern.
(2) Bestimmt das Gesetz, dass besondere persönliche Eigenschaften oder Verhältnisse die Strafe schärfen, mildern oder ausschließen, so gilt dies nur für den Täter oder Teilnehmer, bei dem sie vorliegen.
(3) Bestimmt das Gesetz, dass besondere persönliche Merkmale die Strafe schärfen, mildern oder ausschließen, so gilt dies nur für den Täter oder Teilnehmer, bei dem sie vorliegen.

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