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Der Fall Collini

Der Fall Collini

Titel: Der Fall Collini
Autoren: Ferdinand von Schirach
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Ich habe seit Kurzem meine Zulassung.«
    »Ich erinnere mich«, sagte Reimers. »Und jetzt schon den ersten Mord, gratuliere. Wohl aussichtslos für die Verteidigung … Aber irgendwann muss man ja anfangen.«
    Reimers verabschiedete sich und verschwand in einem Seitenflügel. Leinen ging langsam den Flur runter in Richtung Ausgang. Er war froh, endlich allein zu sein. Er sah sich die Supraporten an, Reliefs aus Gips: Ein weißer Pelikan hackt sich die Brust auf, um mit seinem Blut die Jungen zu nähren. Er setzte sich auf eine Bank, las den Haftbefehl noch einmal, zündete sich eine Zigarette an und streckte seine Beine aus.
    Er hatte immer Strafverteidiger werden wollen. Während des Referendariats hatte er in einer der großen Wirtschaftskanzleien gearbeitet. In der Woche nach dem Examen bekam er vier Einladungen zu Vorstellungsgesprächen, er ging zu keinem der Interviews. Leinen mochte diese Achthundert-Anwälte-Büros nicht. Die jungen Leute dort sahen auswie Bankiers, sie hatten erstklassige Examina, kauften Autos, die sie sich nicht leisten konnten, und wer am Ende der Woche den Mandanten die meisten Stunden in Rechnung stellte, war der Sieger. Die Partner solcher Sozietäten hatten ihre zweite Ehe hinter sich, sie trugen am Wochenende gelbe Kaschmirpullover und karierte Hosen. Ihre Welt bestand aus Zahlen, Aufsichtsratsposten, einem Beratervertrag mit der Bundesregierung und einer nicht endenden Reihe von Konferenzräumen, Flughafenlounges und Hotellobbys. Für alle dort war die größte Katastrophe, wenn ein Fall vor Gericht ging, Richter galten als Risiko. Aber genau das war es, was Caspar Leinen wollte: Er wollte eine Robe anziehen und seine Mandanten verteidigen. Und jetzt war er hier.

3
    Caspar Leinen hatte den Rest des Sonntags an einem See in Brandenburg verbracht. Über den Sommer hatte er dort ein kleines Haus gemietet. Er hatte auf dem Steg gelegen, gedöst und den Jollen und Windsurfern zugesehen. Auf dem Rückweg war er noch einmal in der Kanzlei vorbeigegangen, und jetzt hörte er zum zehnten Mal den Anrufbeantworter ab.
    »Hallo Caspar, hier ist Johanna. Bitte ruf mich sofort zurück.« Dann sagte sie ihre Nummer, das war alles. Er setzte sich zwischen die Kartons auf den Boden neben das Gerät, drückte immer wieder die Wiederholungstaste, lehnte den Kopf an die Wand und schloss die Augen. Es war stickig in dem kleinen Zimmer, seit Tagen stand die Luft in der Stadt.
    Johannas Stimme hatte sich nicht verändert. Siewar immer noch weich, noch immer etwas zu gedehnt, und plötzlich war alles wieder da: Roßthal, das helle Grün unter den Kastanienbäumen, der Geruch des Sommers, als er noch ein Junge war.
    –
    Sie lagen auf dem flachen Dach der Gärtnerei und sahen in den Himmel. Die Teerpappe war warm unter ihnen, die Jacken hatten sie unter die Köpfe gelegt. Philipp sagte, er habe Ulrike, die Tochter des Bäckers, geküsst.
    »Und?«, fragte Caspar. »Durftest du mehr?«
    »Hmm«, sagte Philipp und ließ es lieber offen.
    Die Thermoskanne mit kaltem Tee stand zwischen ihnen, sie war mit ausgeblichenem Peddigrohr umwickelt. Philipps Großvater hatte sie aus Afrika mitgebracht. Von der Terrasse des Hauses hörten sie die Köchin nach ihnen rufen. Sie blieben trotzdem liegen. Hier im Schatten der alten Bäume, die Philipps Urgroßvater gepflanzt hatte, bewegte sich alles langsamer an diesem Spätsommernachmittag. Wenn es so weitergeht, werde ich nie ein Mädchen küssen, dachte Caspar. Er war zwölf Jahre alt, Philipp und er gingen auf das gleiche Internat am Bodensee.
    Caspar war froh, in den Ferien nicht nach Hause fahren zu müssen. Sein Vater besaß etwas ererbtenWald in Bayern, es reichte zum Leben. Er wohnte alleine in einem dunklen Forsthaus aus dem 17. Jahrhundert. Die Wände waren dick, die Fenster winzig, geheizt wurde nur mit Kaminen. Überall hingen Geweihe und ausgestopfte Vögel. Caspar hatte seine ganze Kindheit in dem Haus gefroren. Haus und Vater rochen nach weicher Lakritze im Sommer – es war der Geruch von Balistol, einem Öl, mit dem die Jagdwaffen gereinigt wurden. Mit Balistol wurden auch alle Krankheiten behandelt, es wurde auf Wunden geschmiert, auf schmerzende Zähne und selbst wenn Caspar Husten hatte, bekam er ein Glas heißes Wasser mit diesem Öl. Die einzige Zeitschrift, die es zu Hause gab, war »Wild und Hund«. Die Ehe von Caspars Eltern war ein Irrtum gewesen. Vier Jahre nach der Hochzeit reichte seine Mutter die Scheidung ein. Der Vater sagte später,
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