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Der Fall Collini

Der Fall Collini

Titel: Der Fall Collini
Autoren: Ferdinand von Schirach
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eigentlich habe sie es nur nicht ertragen, dass er immer mit Gummistiefeln herumlaufe. Seine Mutter lernte einen anderen Mann kennen, der zu Hause nur »Der Herr Parvenü« genannt wurde, weil er eine Uhr trug, die mehr kostete als der Wald im Jahr einbrachte. Die Mutter zog mit dem neuen Mann nach Stuttgart, sie bekamen zwei weitere Kinder. Caspar blieb bei seinem Vater im Forsthaus, bis er ins Internat kam. Damals war er zehn gewesen.
    »Okay, wir müssen wohl«, sagte Philipp. »Ich hab Hunger.«
    Sie kletterten vom Dach und gingen hoch zum Haus.
    »Sollen wir nachher schwimmen?«, fragte Philipp.
    »Lieber angeln«, sagte Caspar.
    »Stimmt, angeln ist besser. Wir können die Fische grillen.«
    Nachdem die Köchin geschimpft und die Jungen ihr gesagt hatten, dass sie zu weit weg gewesen seien, um sie zu hören, gab es lange Brote mit Schinken und Butter. Sie aßen wie immer in der Küche und nicht bei Philipps Eltern oben. Caspar war gerne hier unten. Es gab unzählige weiße Schubladen, beschriftet mit schwarzer Tinte: Salz, Zucker, Kaffee, Mehl, Kümmel. Wenn der Postbote morgens kam, setzte er sich mit an den Tisch. Alle sahen gemeinsam die Absender der Briefe durch und lasen die Postkarten, bevor sie zu Philipps Eltern hochgebracht wurden.
    Jeden zweiten Nachmittag hatte Philipp Nachhilfe, Caspar durfte so lange in das Büro von Philipps Großvater, Hans Meyer. Manchmal spielten sie dann auf einem sehr alten Brett Schach. Meyer war geduldig mit dem Jungen, ab und zu ließ er ihn gewinnen und schenkte ihm zum Sieg etwas Geld.
    Hans Meyer leitete noch immer den Familienkonzern. Sein Großvater hatte die Meyer-Werke 1886 gegründet,Hans Meyer hatte sie nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem Weltunternehmen gemacht. Die Firma stellte vor allem Maschinen her, aber auch chirurgische Instrumente, Plastik und Kartonagen. Anfang des 20. Jahrhunderts kaufte Hans Meyers Vater eine riesige Sumpffläche vor der Stadt. Architekten und Landschaftsgärtner aus Berlin kamen, sie legten das Gebiet trocken. Ein Park mit Straßen, Schotter- und Waldwegen, Rasenflächen, exotischen Bäumen und einer Kastanienallee entstand. Die Bäche wurden zu drei Teichen gestaut, in den größten wurde eine künstliche Insel gesetzt, die über eine hellblaue chinesische Brücke zu erreichen war. Es gab einen Tennisplatz mit rotem Sand, ein offenes Schwimmbad, eine Gärtnerei, ein Gästehaus und ein Haus für den Fahrer und seine Familie. Unten im Park war eine Orangerie mit bleigefassten Scheiben, zu der man über einen Fliederweg gelangte. Das Haupthaus wurde 1904 auf einem kleinen Hügel gebaut, eine breite Freitreppe führte zu einer Steinterrasse mit vier runden Säulen. Obwohl es über dreißig Zimmer gab und in den Seitenflügeln sechs Garagen untergebracht waren, wirkte das Haus leicht und schien in die Landschaft zu gehören. Immer schon wurden die Fensterläden dunkelgrün gestrichen, und daher hieß es in der Familie nur das »Grüne Haus«. Der Name war auch sonst gut gewählt, denneine Seite des Hauses war ganz von Efeu bewachsen, und hinter dem Haus standen acht alte Kastanien, unter deren hohen Kronen die Familie an den Wochenenden im Sommer zu Abend aß.
    Hans Meyer war der Einzige in Roßthal, der sich mit den Kindern beschäftigte. Er erklärte ihnen, wie man Baumhütten ohne Nägel baute und wo man die besten Regenwürmer fand. Einmal schenkte er Philipp und Caspar Messer mit Griffen aus Birkenholz. Er zeigte ihnen, wie man damit Pfeifen schnitzte, und die Jungen stellten sich vor, wie sie nachts die Familie gegen Einbrecher verteidigten. Es war der letzte Sommer, der alleine ihnen gehörte. Die Erwachsenen kümmerten sich nicht um sie, und sie hatten noch kaum einen Begriff von Zeit, der über einen Tag hinausging. Ihre einzige Sorge war, dass die Fische nicht beißen und die Mädchen sie nicht küssen würden.
    Vier Jahre später lernte Caspar Johanna, die Schwester Philipps, kennen. Philipp und er verbrachten die Ferien inzwischen immer in Roßthal. Auch an Weihnachten war es dort besser als in dem kalten Haus von Caspars Vater. Zwei Wochen vor den Festtagen hatte es zu schneien begonnen, und jetzt lag der Schnee so hoch, dass die freigeschaufelten Wege im Park wie Irrgärten aussahen. Philipp und Caspar saßen in der Eingangshalle vor dem hohen Kamin.Die drei Hunde der Familie schliefen auf dem Steinboden, sie durften nicht in die oberen Stockwerke. Philipp trug einen gelben Bademantel mit einem tellergroßen Wappen, den er
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