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Der Fall Collini

Der Fall Collini

Titel: Der Fall Collini
Autoren: Ferdinand von Schirach
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sie vermisse Philipp so sehr, und strich ihm über die Wange. Er hielt ihren Arm fest, küsste die Innenfläche ihrer Hand und für einen kurzen Moment glaubte er, dass sie noch einmal gerettet werden könnten.
    –
    Jetzt, sechs Jahre später, wählte er in seinem winzigen Zimmer ihre Telefonnummer. Sie nahm beim ersten Klingeln ab.
    »Hallo, Johanna.«
    »Endlich rufst du an. Ich habe es seit gestern dauernd probiert, ich hatte deine Handynummer nicht. Caspar, warum tust du das?«
    Er war überrascht, sie klang wütend. »Was meinst du?«
    »Warum verteidigst du dieses Schwein?« Sie begann zu weinen.
    »Johanna, beruhige dich doch, ich verstehe nicht, was du meinst.«
    »Überall steht es. Du hast die Verteidigung des Italieners übernommen.«
    »Aber … warte … warte einen Moment …« Leinen stand auf, seine Aktentasche lag noch auf dem Schreibtisch. Er zog den Haftbefehl zwischen denPapieren hervor. »Johanna, hier steht, er hat jemand erschossen, der Jean-Baptiste Meyer heißt.«
    »Mein Gott, Caspar, ›Jean-Baptiste‹ steht doch nur in seinem Pass.«
    »Was sagst du?«
    »Du verteidigst den Mörder meines Großvaters.«
    Hans Meyer hatte eine französische Mutter, sie nannte ihren Sohn Jean-Baptiste nach Johannes dem Täufer. Aber wie viele seiner Generation wollte er keinen komplizierten Namen. Aus Friedrich wurde Fritz, aus Reinhard Reiner, aus Johannes Hans. Jeder kannte ihn nur unter Hans Meyer, selbst auf seinen Visitenkarten wurde der Name so gedruckt.
    Leinen stellte sich zum ersten Mal den Toten vor: Hans Meyer, erschossen in einem Hotelzimmer, Blutlache, Polizisten, Absperrung mit rot-weißem Flatterband. Leinen saß auf dem Boden mit dem Rücken an der Wand. Der Tisch seines Vaters stand schräg im Raum, an einem Bein war ein Stück Holz abgeplatzt.

4
    Es war wie immer: Niemand wusste, wer mit der Presse gesprochen hatte. Später vermutete die Staatsanwaltschaft einen Informanten in den Reihen der Polizei, es gab zu viele Details, die bekannt wurden. Jedenfalls brachte die größte Boulevardzeitung Berlins in ihrer Sonntagabendausgabe den »Mord im Luxushotel« als Aufmacher auf der ersten Seite. Der Name des Täters sagte niemand etwas, aber den Toten kannte man. Er war einer der reichsten Männer der Bundesrepublik: Hans Meyer, Eigentümer und Vorsitzender des Aufsichtsrats der »SMF Meyer Maschinen Fabriken«, Träger des Bundesverdienstkreuzes. In den Nachrichtenredaktionen versuchte man mehr zu erfahren, Archive wurden durchforstet, alte Berichte gelesen. Die Journalisten spekulierten überdas Motiv. Die meisten vermuteten ein Wirtschaftsverbrechen, niemand konnte etwas sicher sagen.
    Rechtsanwalt Professor Dr. Richard Mattinger saß im Bademantel breitbeinig auf seinem Sofa und dachte an seine Frau. Sie hatte vor fast zwanzig Jahren das Haus am Wannsee ausgesucht. Damals, acht Jahre vor der Wiedervereinigung, waren die Grundstücke lächerlich billig geworden, und neue Familien waren in die alten Häuser gezogen. Seine Frau hatte recht behalten, der Wert der Immobilie hatte sich in den letzen zehn Jahren vervielfacht. Sie starb, kurz nachdem sie das Haus eingerichtet hatte, und Mattinger weigerte sich seitdem, irgendetwas zu verändern.
    Sein Bademantel stand offen, die Haare auf seiner Brust waren weiß. Er ließ sich von seiner Freundin befriedigen, einer sehr jungen Frau aus der Ukraine. Sie sagte ihm jeden Tag unzählige Male, wie sehr sie ihn liebte. Mattinger war das gleichgültig. Er wusste, dass eine solche Beziehung immer ein Geschäft auf Gegenseitigkeit war – im besten Fall für beide Parteien eine Zeit lang angenehm. Er war Mitte sechzig, immer noch gut in Form. In den letzten Kriegstagen – er war damals acht Jahre alt gewesen – hatte eine Handgranate seinen linken Unterarm abgerissen. Das Auffälligste aber waren seine Augen, dunkelblau und von ungeheurer Intensität.
    Das Telefon klingelte zum neunten Mal. Nur wenige Menschen hatten seine private Nummer, es musste wichtig sein, wenn jemand am Sonntagnachmittag anrief. Als er endlich abhob, sah seine Freundin zwischen seinen Knien hoch, lächelte und wollte wissen, ob sie weitermachen sollte. Mattinger brauchte einen Moment, um sich zu konzentrieren. Er klemmte den Hörer zwischen Schulter und Kopf, zog einen Block vom Beistelltisch zu sich und begann während des Telefonats zu schreiben. Nachdem er aufgelegt hatte, stand er auf, schloss den Bademantel, strich ihr über den Kopf und ging wortlos in sein
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