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Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan

Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan
Autoren: Ursula K. LeGuin
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Tochter weitergegeben, durch all die vielen Jahre. Und sie war nicht verloren, wie deine Landsleute gedacht haben. Aber als die Hohenpriester Könige wurden, und diese Priesterkönige das Reich schufen und sich Gottkönige nannten, wurde das Haus Thoregs immer ärmer und schwächer. Und ganz am Ende, so hat mir Thar erzählt, blieben nur noch zwei Kinder übrig, ein Junge und ein Mädchen. Der Gottkönig in Awabad, der damals herrschte, war der Vater des jetzigen Gottkönigs. Er ließ die Kinder aus ihrem Palast in Hupun rauben, denn man hatte ihm prophezeit, daß ein Nachfahre von Thoreg von Hupun schließlich doch das Reich zu Fall bringen würde. Und davor hatte er Angst. Er befahl, die Kinder zu rauben und auf einer einsamen Insel mitten im Meer auszusetzen, und er ließ ihnen nichts außer ihrer Kleidung und etwas Nahrung. Er hatte Angst, sie durch das Messer, den Strang oder durch Gift umzubringen, denn ein Fluch liegt auf jedem, selbst auf einem Gott, der königliches Blut vergießt. Sie hießen Ensar und Anthil, und Anthil gab dir den zerbrochenen Ring.«
    Er schwieg lange. »So schließt sich also auch die Geschichte«, sagte er dann, »wie sich der Ring geschlossen hat. Aber es ist eine grausame Geschichte, Tenar. Die kleinen Kinder, die kleine Insel, der alte Mann und die Frau, die ich sah … sie waren kaum noch der menschlichen Sprache mächtig.«
    »Ich möchte dich um etwas bitten.«
    »Bitte!«
    »Ich möchte nicht in die Innenländer, nach Havnor. Ich gehöre nicht dorthin, in große Städte, unter fremde Menschen. Ich gehöre in kein Land. Ich habe mein eigenes Land verraten. Und ich habe etwas Furchtbares getan. Setz mich auf einer Insel aus, so wie die Kinder des Königs ausgesetzt wurden, auf einer einsamen Insel, wo es keine Leute gibt und wo keiner hinkommt. Laß mich dort und trag den Ring nach Havnor. Er gehört dir, nicht mir. Ich habe nichts mit ihm zu tun. Auch deine Landsleute haben nichts mit mir zu tun. Laß mich allein.«
    Langsam, ganz langsam erschien ein Licht wie ein kleiner Mondaufgang in der Dunkelheit. Bestürzt blickte sie auf. Das magische Licht war auf sein Geheiß erschienen. Es schwebte am Ende seines Stabes, den er hochhielt, als er sich am Bug des Bootes aufsetzte. Es beleuchtete den unteren Teil des Segels, den Dollbord, die Planken und übergoß sein Gesicht mit einem silbernen Licht. Er schaute ihr voll ins Gesicht.
    »Was war das Furchtbare, das du getan hast, Tenar?«
    »Ich habe angeordnet, daß drei Männer in einem Raum unter dem Thron eingeschlossen werden und verhungern sollten. Sie sind an Hunger und Durst gestorben. Als sie tot waren, wurden sie im Gewölbe begraben. Die Grabsteine fielen auf ihre Gräber.«
    Sie sprach nicht weiter.
    »Noch mehr?«
    »Manan.«
    »Dieser Tod liegt auf meiner Seele.«
    »Nein. Er starb, weil er mich liebte und weil er treu war. Er glaubte, daß er mich schützen müsse. Er hatte das Schwert über meinen Hals gehalten. Als ich klein war, war er immer lieb zu mir – wenn ich weinte …« Sie verstummte, denn sie spürte, wie die Tränen wieder in ihr aufstiegen, und sie wollte nicht mehr weinen. Ihre Hände ballten sich in den schwarzen Falten ihres Kleides. »Ich war nie nett zu ihm«, sagte sie. »Ich werde nicht nach Havnor gehen. Ich werde nicht mit dir gehen. Suche eine Insel, wo niemand hinkommt, setz mich dort ab und laß mich allein. Das Böse muß gesühnt werden. Ich bin nicht frei.«
    Das sanfte Licht, vom Nebel verschleiert, glomm zwischen ihnen.
    »Hör mir zu, Tenar, hör mir gut zu! Du warst das Gefäß des Bösen. Das Böse ist ausgeleert. Es ist vorbei. Es ist in seinem eigenen Grab begraben. Du warst nie dazu bestimmt, grausam oder böse zu sein. Du warst bestimmt, das Licht zu halten, wie eine brennende Lampe Licht enthält und spendet. Ich habe die Lampe gefunden, obgleich sie erloschen war. Ich werde sie nicht auf irgendeiner Wüsteninsel lassen, wie etwas, das man findet und wieder wegwirft. Ich nehme dich mit nach Havnor, und ich werde den Fürsten der Erdsee sagen: ›Schaut her! Anstelle der Dunkelheit habe ich das Licht gefunden, sie, ihre Seele. Durch sie wurde Böses zunichte gemacht; durch sie entstieg ich lebendig den Gräbern; sie fügte und heilte, was zerbrochen und zuschanden war, und wo Haß loderte, wird Friede walten!‹«
    »Ich will nicht gehen«, sagte Tenar gequält. »Ich kann nicht. Was du sagst, ist nicht wahr!«
    »Und danach«, fuhr er unbeirrt fort, »führe ich dich weg von den
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