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Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan

Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan
Autoren: Ursula K. LeGuin
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Fürsten und reichen Adligen. Denn es stimmt, daß du dort nicht hingehörst. Du bist zu jung und zu weise. Ich nehme dich in mein Land mit, nach Gont, wo ich geboren bin, zu meinem früheren Meister Ogion. Er ist jetzt alt, ein sehr großer Magier und eine stille Seele. Er wird ›Der Schweigsame‹ genannt. Er wohnt in einem kleinen Haus hoch auf den Felsen bei Re Albi, weit über dem Meer. Er hat ein paar Ziegen und einen kleinen Garten. Im Herbst geht er ganz allein auf eine Wanderung über die Insel, durch die Wälder, hinauf in die Berge, durch Täler, entlang den Flüssen. Einmal habe ich dort bei ihm gewohnt, als ich noch jünger war als du. Ich blieb nicht lange, weil ich nicht vernünftig genug war, zu bleiben. Ich verließ ihn, um das Böse zu suchen, und fand es dann wahrhaftig auch … Doch du entflohst dem Bösen und suchst die Freiheit, suchst die Stille, bis du dich selbst gefunden hast. Dort findest du Güte und Stille, Tenar. Dort kann die Lampe eine Weile ruhig brennen, vor dem Wind geschützt. Wirst du dorthin mitkommen wollen?«
    Der Nebel wogte grau zwischen ihren Gesichtern. Das Boot hob sich leicht auf den langgestreckten Wogen. Nacht umgab sie, und unter ihnen lag die unergründliche See.
    »Ja, ich werde mitkommen«, sagte sie mit einem tiefen Seufzer. Und nach einer Weile fügte sie hinzu: »Oh, ich wollte, es wäre gleich … daß wir dorthin gehen könnten …«
    »Es wird nicht lange dauern, Kleines.«
    »Wirst du jemals dort hinkommen?«
    »Wenn ich kann, werde ich kommen.«
    Das Licht um sie war erloschen, die Dunkelheit hatte sich auf sie gesenkt. Sonnenaufgänge und -untergänge, ruhige Tage auf See und eisige Winde des Winters lagen hinter ihnen, als sie endlich das Innenmeer erreichten. Sie segelten die starkbefahrenen Meeresstraßen zwischen großen Schiffen entlang, dann die Meerenge von Ebavnor hinauf und über die Bucht in den Hafen von Havnor. Sie sahen die weißen Türme und die ganze Stadt weißglitzernd im Schnee liegen. Schnee bedeckte die Dächer der Brücken und die roten Ziegeldächer der Häuser, und die Takelagen der Schiffe im Hafen waren mit Eis überzogen und funkelten in der Wintersonne. Die Kunde ihrer Rückkehr war ihnen vorausgeeilt, denn der Weitblick rotes Segel war in diesen Gewässern bekannt. Eine große Menschenmenge hatte sich am verschneiten Ufer versammelt, und bunte Fahnen und Wimpel flatterten und knatterten im hellen, kalten Wind.
    Tenar saß aufrecht im Heck des Bootes, in ihrem abgetragenen schwarzen Umhang. Sie blickte auf den Reif an ihrem Arm, dann auf das dichtbesetzte, bunte Ufer, auf die Paläste und hohen Türme. Sie hob die rechte Hand, und das Sonnenlicht fing sich im Silber des Ringes. Ein Jubel erhob sich, der, vom Wind ergriffen, schwach, aber anhaltend über die ruhelose See zu ihnen herübergetragen wurde. Ged legte am Pier an. Hunderte von Händen streckten sich aus, um das Seil zu fangen, das er zum Vertäuen hinaufwarf. Er stieg hinauf aufs Pier, wandte sich um und streckte Tenar die Hand entgegen. »Komm!« sagte er lächelnd, und sie erhob sich und kam. Ernst schritt sie an seiner Seite die weißen Straßen von Havnor hinauf, seine Hand haltend wie ein Kind, das heimgekehrt ist.

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