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Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan

Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan
Autoren: Ursula K. LeGuin
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beschmutzten Kleid und schwarzen Umhang da. »Alles, was ich kann und weiß, nützt mir jetzt nichts«, sagte sie. »Und ich habe nichts anderes gelernt. Ich werde es zu lernen versuchen.«
    Ged zuckte zusammen und blickte weg, als litte er Schmerzen. Am nächsten Tag überschritten sie den höchsten Kamm des lohfarbenen Gebirges. Oben auf dem Paß schlug ihnen ein eisiger Wind ins Gesicht, gleichzeitig begann es, heftig zu schneien, so daß sie fast nichts mehr sehen konnten. Erst als sie ein geraumes Stück auf der anderen Bergseite hinabgestiegen und aus dem Schneegestöber auftauchten, sah Tenar das Land jenseits der Bergkette vor sich liegen. Grün breitete es sich vor ihr aus – das Grün der Tannen, der Weiden, der Felder und der Wiesen. Selbst jetzt, mitten im Winter, unter kahlen Büschen und Wäldern voll grauer Äste sah das Land in dem milden Klima zartgrün aus. Sie standen an einer Geröllhalde, hoch am Berg, und schauten hinab. Wortlos deutete Ged nach Westen, wo die Sonne hinter einer dunklen, aufgebauschten Wolke unterging. Sie selbst war nicht zu sehen, doch am Horizont kündete ein glitzernder Streif von ihr, ähnlich dem Kristallgefunkel an der Decke und der Wand des Grabgewölbes, hier aber ein beglückendes und lebensverheißendes Strahlen am Rande der Welt.
    »Was ist das?« fragte sie, und er antwortete: »Das Meer.«
    Kurz danach sah sie etwas weniger Wunderbares, das ihr freilich noch wunderbar genug schien. Sie stießen auf eine Straße und gingen sie entlang. Als die Dämmerung hereinbrach, erreichten sie ein Dorf: zehn bis zwölf Häuser, an der Straße entlang aufgereiht. Als Tenar bewußt wurde, daß sie sich unter Menschen befanden, blickte sie bestürzt auf ihren Gefährten. Sie schaute und – sah ihn nicht. Neben ihr, in Geds Kleidung, mit seinem Gang, in seinen Schuhen, wanderte ein fremder Mann. Seine Haut war weiß, sein Bart verschwunden. Er blickte sie an, seine Augen leuchteten blau und zwinkerten ihr zu.
    »Meinst du, ich führe sie hinters Licht?« fragte er. »Wie gefällt dir übrigens dein Kleid?«
    Sie blickte an sich hinunter. Sie trug einen ländlichen braunen Rock und eine Jacke; um ihre Schultern lag ein großes rotes wollenes Tuch.
    »Oh«, sagte sie und blieb wie angewurzelt stehen. »Oh, du bist aber – du bist Ged!« Als sie seinen Namen aussprach, sah sie ihn ganz klar, sein dunkles, vernarbtes Gesicht, das ihr vertraut war, seine dunklen Augen; doch hier stand der Fremde mit dem Milchgesicht.
    »Gebrauche nie wieder meinen wahren Namen, wenn andere Leute dabei sind. Ich werde auch deinen nicht gebrauchen. Wir sind Bruder und Schwester und kommen von Tenakbah. Und jetzt, glaube ich, werde ich um etwas Essen bitten, wenn ich ein freundliches Gesicht sehe.« Er ergriff ihre Hand, und sie betraten das Dorf.
    Am nächsten Morgen, gesättigt und nach einer geruhsamen Nacht auf dem Heuboden einer Scheune, verließen sie das Dorf.
    »Müssen Magier oft betteln?« fragte Tenar, als sie sich auf dem Weg zwischen grünen Wiesen befanden, auf denen Ziegen und kleine, scheckige Kühe weideten.
    »Warum willst du das wissen?«
    »Es schien dir nichts auszumachen, du hast es sogar sehr gut gekonnt.«
    »Ja, weißt du, ich habe mein ganzes Leben lang gebettelt, wenn man so will. Zauberer besitzen nicht viel. Wenn sie auf der Wanderschaft sind, haben sie ohnehin nur ihren Stab und ihre Kleidung. Die meisten Leute freuen sich, wenn ein Zauberer sie um Essen oder Unterkunft bittet. Sie zeigen sich auf ihre Weise erkenntlich.«
    »Wie?«
    »Na, nimm die Frau im Dorf; ich habe ihre Ziegen geheilt.«
    »Was hatten sie?«
    »Beide hatten entzündete Euter. Als ich klein war, habe ich Ziegen gehütet.«
    »Hast du ihr gesagt, daß du sie geheilt hast?«
    »Nein. Das hätte ich nicht tun können. Und warum auch?«
    Sie schwieg eine Weile, dann sagte sie: »Jetzt weiß ich, daß deine Künste nicht nur für große Dinge gut sind.«
    »Gastfreundschaft«, sagte er, »Herzlichkeit einem Fremden gegenüber, das sind sehr große Dinge. Sich bedanken hätte genügt, natürlich. Aber mir haben auch die Ziegen leid getan.«
    Am Nachmittag erreichten sie eine größere Stadt. Sie war aus Backstein gebaut und ringsum, wie es im Kargadreich üblich war, von einer Stadtmauer mit Schießscharten umgeben, die an jeder der vier Ecken einen Wachtturm und nur ein einziges großes Tor aufwies, durch das ein Hirte gerade seine Schafe trieb. Die roten Ziegeldächer von hundert oder noch mehr Häusern
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