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Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan

Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan
Autoren: Ursula K. LeGuin
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ungefähr so nahrhaft, wie wenn du deine eigenen Worte verschlucktest.« Sie sah seine weißen Zähne kurz im Feuerschein aufblitzen.
    »Deine Magie ist merkwürdig«, stellte sie fest, und jetzt sprach die Priesterin zum Magier, die sich auf einer Stufe mit ihm fühlte. »Sie scheint nur für außerordentliche Ereignisse nützlich zu sein.«
    Er legte mehr Holz aufs Feuer, und es flammte hell auf und verbreitete mit Funken und Knistern einen Duft von Wacholder.
    »Kannst du wirklich einen Hasen herbeirufen?« wollte sie plötzlich wissen.
    »Soll ich einen rufen?«
    Sie nickte.
    Er wandte sich vom Feuer ab und sprach leise in die sternenhelle Nacht hinein: »Kebbo … o Kebbo …«
    Stille; kein Laut; keine Bewegung. Sachte, ganz sachte, an der äußersten Grenze des flackernden Lichtkreises, erschien nahe am Boden ein rundes, blankes Auge, wie ein schwarzer Kiesel, ein gerundeter flaumiger Rücken, ein langes, aufmerksam hochgerichtetes Ohr.
    Ged sprach wieder. Das Ohr flatterte etwas, und plötzlich erhielt es einen Partner; als sich das kleine Tierchen umdrehte, konnte Tenar es einen Augenblick lang ganz sehen: ein kleiner, federnder, weicher Ball, der unbekümmert in die Dunkelheit davonhoppelte und verschwand.
    »Oh«, sagte sie und atmete tief aus. »Das war wunderschön.« Nach einer Weile fragte sie: »Kann ich das auch tun?«
    »Hmmmm …«
    »Es ist ein Geheimnis«, fügte sie rasch hinzu, wiederum mit Priesterinnenwürde.
    »Der Name des Hasen ist ein Geheimnis. Zumindest sollte er nicht grundlos, zum Vergnügen, mißbraucht werden. Aber die Macht zum Rufen, weißt du, das ist kein Geheimnis, das ist eine Gabe.«
    »Oh«, sagte sie, »die hast du, daß weiß ich!« Sie sprach mit tiefer Überzeugung, ehrlich und ohne verhüllende Ironie. Er blickte sie an, gab aber keine Antwort.
    Der Kampf mit den Namenlosen hatte an seinen Kräften gezehrt, und er war noch sehr schwach. In den bebenden, grollenden Gängen hatte er seine Kräfte verbraucht. Obgleich er gewonnen hatte, blieb ihm wenig Stärke zum Frohlocken. Er rollte sich bald wieder zusammen, ganz nahe am Feuer, und schlief ein.
    Tenar blieb sitzen, legte ab und zu Zweige nach und ließ ihre Augen von einem Ende bis zum anderen über den Winterhimmel schweifen. Sie schaute in das Gefunkel der Sternbilder, bis ihr zu schwindeln begann, ob der Schönheit und ob des Schweigens, und sie nickte ein.
    Beide wachten zur gleichen Zeit auf. Das Feuer war niedergebrannt. Die Sterne, die sie gesehen hatte, waren inzwischen längst hinter den Bergen verschwunden, und neue waren im Osten aufgegangen. Die Kälte hatte sie geweckt, die trockene Kälte der Wüstennacht, und der Wind, der so schneidend wie ein eisiges Messer durch ihre Kleidung drang. Im Südwesten sah man den Schleier einer Wolke sich langsam nähern.
    Ihr Holz war fast aufgebraucht. »Komm, gehen wir«, sagte Ged, »es ist nicht mehr lang bis zum Morgengrauen.« Seine Zähne schlugen so sehr aufeinander, daß sie ihn kaum verstehen konnte. Sie brachen auf und begannen den langen, leicht ansteigenden Hang im Westen hinaufzuklettern. Die Büsche und Felsen waren schwarz im Licht der Sterne, und sie konnten mühelos ihren Weg finden. Beide froren, aber bald wurde es ihnen im Gehen wärmer. Sie hörten auf zu frösteln und gingen leichter dahin. Bei Sonnenaufgang hatten sie die untersten Hänge der Berge des Westens erreicht, die Tenars Leben bisher umgeben hatten.
    Sie hielten unter einer Gruppe von Bäumen an, deren silbrige, dünne Blätter sich noch an den Zweigen befanden und sich leicht bewegten. Er sagte ihr, daß dies Espen seien. Sie kannte keine anderen Bäume als den Wacholder, die kümmerlichen Pappeln bei den Quellen und die vierzig Apfelbäume im Garten der Stätte. In den Blättern der Bäume piepste ein kleiner Vogel: »Diii, diii.« Unter den Bäumen floß ein schmaler, aber wilder Bach dahin, der sich schäumend seinen Weg über Steine und Geröll bahnte und es zu eilig hatte, um einzufrieren. Er beunruhigte Tenar fast ein wenig. Sie war an die Wüste gewöhnt, wo sich alles still und träge bewegte: der Fluß, die Schatten der Wolken, die kreisenden Geier.
    Zum Frühstück teilten sie ein Stück Brot und das letzte Stückchen Käse miteinander, ruhten sich etwas aus und gingen dann weiter.
    Am Abend waren sie hoch oben in den Bergen. Es war eiskalt, bedeckt und windig. Sie hielten im Tal eines anderen Flusses an, wo es Holz in Hülle und Fülle gab, und machten ein größeres Feuer,
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