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Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan

Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan
Autoren: Ursula K. LeGuin
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Uahto, vielleicht noch andere Wärter … Männer dürfen hier nicht herkommen.«
    »Ich kann nicht gleichzeitig einen Öffnungszauber wirken, mich gegen Leute wehren, die auf uns lauern, und dem Willen der Dunkelheit widerstehen«, sagte er, und seine Stimme klang ruhig und abwägend. »Wir müssen uns an die andere Tür halten, die zwischen den Felsen, durch die ich hereinkam. Weiß sie, daß diese Tür nicht von innen geöffnet werden kann?«
    »Ja, das weiß sie. Sie hat es mich einmal versuchen lassen.«
    »Dann rechnet sie nicht damit. Komm, Tenar!«
    Sie war auf die Steintreppe gesunken, die erbebte und summte wie eine Riesensehne, die in der Tiefe unter ihr gespannt wurde.
    »Woher kommt dieses Zittern?«
    »Komm!« sagte er, und seine Stimme war so bestimmt, so fest, daß sie ihm gehorchte und die Treppen und Gänge zurückschlich, zurück zu dem fürchterlichen Gewölbe.
    Am Eingang fiel ein Gewicht voll abgrundtiefen, blinden Hasses auf sie, das sie zu Boden drückte wie das Gewicht der Erde selbst, so daß sie sich niederkauerte und ohne es zu wissen aufschrie: »Sie sind hier! Sie sind hier! …«
    »Dann laß sie wissen, daß wir hier sind!« sagte der Mann, und von seinem Stab und von seinen Händen sprang ein Licht auf, dessen heller weißer Glanz in Tausenden und aber Tausenden von Funken an den Diamanten der Decke und den Wänden zersprühte; und durch diese Lichterpracht flohen die beiden, quer durch das Gewölbe; ihre Schatten glitten über die weißen Spitzbögen, die glitzernden Nischen, das leere, offene Grab. Sie rannten zu dem niedrigen Gang, in den Gang hinein, bückten sich tief, sie voran, er dichtauf folgend. Und dort im Gang dröhnte der Fels, bewegte sich mahlend unter ihren Sohlen. Doch das Licht umgab sie noch, leuchtete ihnen noch. Als sie die tote Felswand vor sich sah, hörte sie durch das Krachen und Bersten der Erde seine Stimme ein Wort sagen, und als sie auf die Knie fiel, schlug der Stab über ihrem Kopf gegen den roten Fels der geschlossenen Tür. Der Fels glühte weiß auf, so als stünde er im Feuer, und brach auseinander.
    Draußen wölbte sich der Himmel über ihnen, bleich vor der kommenden Morgenröte. Ein paar weiße Sterne standen hoch darin in kühlem Feuer.
    Tenar sah die Sterne und fühlte den süßduftenden Wind, der ihr Gesicht berührte. Dann schauderte sie zusammen und blieb auf Händen und Knien zwischen Himmel und Erde liegen.
    Der Mann, eine fremde, dunkle Gestalt im ungewissen Licht vor dem Morgengrauen, wandte sich um und zog sie am Arm, damit sie aufstehe. Sein Gesicht war schwarz und verzerrt wie das Gesicht eines Dämons. Sie kauerte und krümmte sich weg von ihm und kreischte mit einer fremden Stimme, als hätte sie eine tote Zunge im Mund: »Nein! Nein! Rühr mich nicht an … Laß mich los … Geh fort!« Und sie duckte sich und schlängelte sich zu dem zerbröckelnden, grausamen Mund der Gräber hin.
    Sein fester Griff lockerte sich. Er sprach mit ruhiger Stimme: »Tenar, im Namen des Reifens, den du am Arm trägst, gebiete ich dir zu kommen!«
    Sie sah das silberne Licht der Sterne auf dem silbernen Ring an ihrem Arm. Ihre Augen darauf geheftet, erhob sie sich taumelnd. Sie nahm seine Hand, und zusammen machten sie sich auf. Sie konnte nicht schnell gehen. Sie wankten den Hügel hinunter. Aus dem schwarzen Mund zwischen den Steinen hinter ihnen ertönte ein langgezogenes Stöhnen und Heulen voller Haß und Klage. Steine fielen rings um sie herum zur Erde. Der Boden erzitterte. Sie gingen weiter, ihre Augen waren noch immer fest auf das Funkeln der Sterne gerichtet, die sich in ihrem Armreif spiegelten.
    Sie befanden sich jetzt im schwach erhellten Tal westlich der Stätte. Ihr Weg führte leicht bergauf, und plötzlich hieß der Mann sie, sich umzudrehen: »Schau …«
    Sie wandte sich um und schaute. Sie standen jetzt auf der anderen Seite des Tales, auf einer Höhe mit den Grabsteinen, den neun großen Monolithen, die über dem Gewölbe der Diamanten und Gräber standen oder lagen. Die Steine, die standen, begannen sich jetzt zu bewegen. Sie zuckten und ruckten und lehnten sich langsam zur Seite, wie die Masten von sinkenden Schiffen. Einer von ihnen schien sich zu recken, schien höher zu werden, doch dann, plötzlich, schien ihn etwas von innen heraus zu schütteln, und er fiel zur Seite. Ein anderer fiel quer darüber und zerbarst. Die Kuppel der Thronhalle hinter den Steinen, die sich schwarz vor dem gelben Licht im Osten abhob, begann
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