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Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan

Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan
Autoren: Ursula K. LeGuin
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das sie verhältnismäßig warm hielt.
    Tenar war glücklich. Sie hatte ein Versteck voller Nüsse gefunden, das von einem Eichhörnchen angelegt und durch den Fall eines hohlen Baumes bloßgelegt worden war: ein paar Pfund Walnüsse und Nüsse mit einer glatten Schale, die Ged, der ihren kargischen Namen nicht kannte, Nubir nannte. Sie knackte eine nach der anderen zwischen einem flachen und einem anderen Stein, den sie als Hammer benutzte, und gab jede zweite Nuß dem Mann zum Essen.
    »Ich wollte, wir könnten hierbleiben«, sagte sie und blickte hinunter in das windige, von Dämmerlicht erhellte Tal zwischen den Bergen. »Mir gefällt es hier.«
    »Ja, hier ist es gut.« Er stimmte mit ihr überein.
    »Niemand würde hierherkommen.«
    »Oder zumindest kaum jemand … Ich bin in den Bergen geboren«, sagte er, »auf dem Berge Gont. Wir werden an ihm vorbeisegeln, wenn wir die nördliche Route nach Havnor nehmen. Im Winter sieht er sehr eindrucksvoll aus, wenn er sich ganz weiß, wie eine Riesenwelle, aus dem Meer erhebt. Mein Dorf lag an einem Fluß, der genauso aussah wie dieser hier. Wo bist du geboren, Tenar?«
    »Im Norden von Atuan, in Entat, glaube ich. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern.«
    »So jung warst du, als sie dich deinen Eltern wegnahmen?«
    »Ich war fünf. Ich erinnere mich an ein Feuer im Herd und … sonst nichts.«
    Er rieb sich das Kinn, an dem ein spärlicher Bart sproß, das aber jetzt wenigstens sauber war, denn trotz der Kälte hatten sie sich im Bergwasser gewaschen. Er sah nachdenklich und ernst drein. Sie blickte ihn an, und niemals hätte sie sagen können, was ihr Herz bewegte, als sie ihn im Licht des Feuers, in der Dämmerung zwischen den Bergen, ansah.
    »Was wirst du in Havnor machen?« fragte er, und die Frage war an das Feuer, nicht an sie gerichtet. »Du bist – mehr als ich mir bewußt war – wirklich wiedergeboren.«
    Sie nickte und lächelte ein bißchen. Sie fühlte sich wiedergeboren.
    »Du solltest zumindest die Sprache lernen.«
    »Deine Sprache?«
    »Ja.«
    »Das würde ich gerne tun.«
    »Gut. Also das ist Kabat«, sagte er und warf einen kleinen Stein in ihren Schoß auf den schwarzen Umhang.
    »Kabat. Ist das die Drachensprache?«
    »Nein, nein. Du willst doch keine Zauberformeln wirken, du willst mit anderen Männern und Frauen sprechen!«
    »Was ist ›Stein‹ in der Drachensprache?«
    »Tolk«, sagte er. »Aber ich mache keinen Zauberlehrling aus dir. Ich lehre dich die Sprache, die von den Leuten des Inselreiches, den Innenländern, gesprochen wird. Ich mußte deine Sprache auch lernen, bevor ich herkam.«
    »Sie klingt komisch, wenn du sie aussprichst.«
    »Zweifellos. Jetzt Arkemni Kabat«, und er streckte ihr seine Hand hin, damit sie ihm den Stein wiedergäbe.
    »Muß ich nach Havnor gehen?« fragte sie.
    »Wo möchtest du hingehen, Tenar?«
    Sie zögerte.
    »Havnor ist eine herrliche Stadt«, sagte er. »Und du bringst ihnen den Ring, das Friedenszeichen, die verlorene Rune. Sie werden dich in Havnor wie eine Prinzessin empfangen. Sie werden dich ehren für die große Gabe, die du ihnen bringst, dich willkommen heißen und umsorgen. In der Stadt wohnen edle und großzügige Menschen. Sie werden dich die Weiße Dame nennen, wegen deiner hellen Haut, und dich liebhaben, weil du so jung bist; und weil du so schön bist. Du wirst Hunderte von Gewändern haben, wie ich dir eines durch Illusion gezeigt habe, nur diesmal werden es wirkliche Gewänder sein. Sie werden dich preisen, dir dankbar sein, sie werden dich lieben, dich, die nur Einsamkeit und Neid und die Dunkelheit gekannt hat.«
    »Manan war da«, sagte sie einschränkend, und ihre Lippen begannen zu zittern. »Er mochte mich und war immer lieb zu mir, immer. Er hat mich beschützt, so wie er es halt verstanden hat, und dafür habe ich ihn getötet, in den schwarzen Schacht ist er gefallen. Ich will nicht nach Havnor gehen. Ich will nicht dorthin gehen. Ich will hierbleiben.«
    »Hier – auf Atuan?«
    »Hier in den Bergen. Wo wir jetzt sind.«
    »Tenar«, sagte er mit seiner ernsten, ruhigen Stimme, »wenn du willst, dann bleiben wir hier. Ich habe zwar kein Messer, und wenn es schneit, kann es schwierig werden. Aber so lange wir Nahrung finden …«
    »Nein, ich weiß, daß wir nicht hierbleiben können. Ich bin nur kindisch«, sprach Tenar, stand auf, und die Nußschalen fielen um sie herum auf die Erde. Sie legte neues Holz aufs Feuer. Sie stand schmal und kerzengerade in ihrem
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