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Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan

Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan
Autoren: Ursula K. LeGuin
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Glieder darauf ausstreckte. Tenar hörte der Brandung zu, die ein paar Meter unterhalb des Eingangs gegen die Felsen züngelte und zischte und grollend noch kilometerlang am Strand östlich von ihnen vernehmbar war. Sie hörte sich wie die Wiederholung eines immer gleichen Geräusches an, pausenlos, und doch stets leicht abgewandelt. Ruhelos, ohne abzusetzen, rollten die Wellen gegen das Ufer, gegen alle Küsten, gegen alle Länder dieser Welt. Nie rasteten sie, nie standen sie still. Die Wüste, die Berge: die standen still. Die brüllten nicht fortwährend mit dieser mächtigen dumpfen Stimme. Nie hörte das Meer auf zu reden, doch seine Sprache war ihr fremd. Sie verstand sie nicht.
    Im ersten Licht des Morgens, als die Ebbe den Wasserspiegel gesenkt hatte, erwachte sie aus schweren Träumen und sah, wie der Zauberer die Höhle verließ. Sie beobachtete ihn, wie er barfuß den Gürtel um seinen gerafften Umhang schnallte und auf den schwarzbehaarten Felsen unterhalb der Höhle herumlief und etwas suchte. Er kam zurück, verdunkelte den Eingang, als er eintrat. »Hier«, sagte er und hielt ihr eine Handvoll nasser, scheußlicher Dinge entgegen, die wie lila Steine mit orangefarbenen Lippen aussahen.
    »Was ist das?«
    »Miesmuscheln, gerade vom Fels gepflückt. Und diese beiden hier, das sind Austern, die schmecken noch besser. Siehst du – so macht man das!« Mit dem kleinen Dolch von ihrem Schlüsselbund, den sie ihm in den Bergen geliehen hatte, öffnete er die orangefarbenen Muscheln und aß sie, mit dem Seewasser als Tunke.
    »Du kochst die nicht vorher? Du ißt sie roh?«
    Sie konnte ihm nicht zuschauen, wie er, verlegen, aber ohne sich davon abhalten zu lassen, eine nach der anderen öffnete und aß.
    Als er damit fertig war, ging er tiefer in die Höhle hinein zum Boot, das mit dem Bug nach vorne auf ein paar Treibholzstückchen ruhte, die es vor dem Sand schützten. Tenar hatte das Boot am vergangenen Abend bereits mißtrauisch und verständnislos betrachtet. Es war viel größer, als sie sich vorgestellt hatte, mindestens dreimal so lang wie sie selbst. Es war gefüllt mit Geräten, deren Zweck ihr schleierhaft war, und es sah gefährlich aus. An jeder Seite seiner Nase, wie sie den Bug bezeichnete, waren zwei Augen gemalt, und im Halbschlaf hatte sie sich dauernd eingebildet, daß diese Augen sie anstarrten.
    Ged kramte eine Weile im Boot herum und kam mit etwas zurück: einem Paket harten Brotes, das fest eingewickelt war, um es trocken zu halten. Er bot ihr ein großes Stück davon an.
    »Ich habe keinen Hunger.«
    Er blickte in ihr trotziges Gesicht.
    Er wickelte das Brot wieder ein und brachte es zurück, dann setzte er sich am Eingang der Höhle nieder. »Noch ungefähr zwei Stunden bis zur Flut«, sagte er. »Dann können wir fahren. Du hast schlecht geschlafen, warum schläfst du jetzt nicht ein bißchen?«
    »Ich bin nicht schläfrig.«
    Er gab ihr keine Antwort. Er saß mit untergeschlagenen Beinen am dunklen Felsentor und wandte ihr sein Profil zu. Die schimmernden Wellen des Meeres hoben und senkten sich hinter ihm, als sie ihn aus der Tiefe der Höhle heraus betrachtete. Er rührte sich nicht. Er war so regungslos wie der Felsen selbst. Eine Stille ging von ihm aus, wie Ringe sich auf Wasser ausbreiten, in das ein Stein geworfen wurde. Sein Schweigen war Nichtreden, es war ein Ding für sich, es war wie das Schweigen der Wüste.
    Eine geraume Zeit verstrich, dann stand Tenar auf und kam zum Eingang der Höhle. Er rührte sich nicht. Sie sah hinunter auf sein Gesicht. Es glich einer Kupfermaske – starr und unbeweglich; die dunklen Augen standen offen, blickten aber nach unten, die Lippen waren entspannt.
    Er war so unerreichbar für sie wie das Meer.
    Wo befand er sich jetzt, welchen Pfaden folgte sein Geist? Sie würde ihm nie folgen können.
    Er hatte sie gezwungen, mit ihm zu gehen. Sie bei ihrem Namen gerufen; und sie war aus der Dunkelheit hochgekrochen und hatte sich an seiner Hand niedergekauert wie der kleine wilde Hase. Und jetzt, da er den Ring hatte, jetzt, da die Gräber in Trümmern lagen und ihre Priesterin für immer verloren war, jetzt brauchte er sie nicht mehr, jetzt verließ er sie und ging an einen Ort, wohin sie nicht folgen konnte. Er würde nicht bei ihr bleiben. Er hatte sie betrogen, würde sie todunglücklich zurücklassen.
    Sie beugte sich nieder und nahm mit einer hurtigen Bewegung den kleinen Stahldolch, den sie ihm geliehen hatte, aus seinem Gürtel. Er saß da
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