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Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan

Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan
Autoren: Ursula K. LeGuin
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lugten hinter der Mauer aus gelblichem Backstein hervor. Zwei Krieger mit roten Federbüschen auf den Helmen, die im Dienst des Gottkönigs standen, hielten Wache am Tor. Tenar kannte diese Helme. Einmal im Jahr waren Männer in solchen Helmen an die Stätte gekommen, um Sklaven oder Geld als Gabe zum Tempel des Gottkönigs zu bringen. Als sie im Vorbeischreiten Ged davon erzählte, sagte er: »Ich habe sie auch schon gesehen, als ich noch ein Junge war. Sie kamen nach Gont, um zu plündern und zu rauben. Aber sie wurden vertrieben. Und in Armünde kam es zur Schlacht, und viele sind gefallen. Hunderte, sagt man. Na, jetzt, nachdem die Rune wieder ganz ist, gibt es vielleicht keine Raubzüge und kein Töten mehr zwischen dem Kargadreich und den Innenländern.«
    »Es wäre dumm, wenn das nicht aufhören würde«, stimmte Tenar zu. »Was würde denn der Gottkönig mit all den Sklaven tun?«
    Ihr Gefährte schien über ihre Worte nachzudenken. »Du meinst, wenn das Kargadreich die Innenländer besiegen würde?«
    Sie nickte.
    »Ich glaube nicht, daß dies je passieren würde.«
    »Aber schau doch her, wie stark das Reich ist – diese große Stadt mit ihrer Mauer und all die Männer. Wie könnten eure Länder dem widerstehen, wenn sie angegriffen würden?«
    »Das ist keine große Stadt«, sagte er behutsam und freundlich. »Ich hätte sie auch als riesig angesehen, wenn ich gerade von meinem Berg heruntergekommen wäre. Aber in der Erdsee gibt es viele, viele Städte, und verglichen mit diesen ist das hier eine Kleinstadt. Es gibt viele, viele Länder. Du wirst sie sehen, Tenar.«
    Sie erwiderte nichts. Sie ging neben ihm, und ihr Gesicht war verschlossen.
    »Es ist ganz wunderbar, wenn man sie zum ersten Mal sieht: ein neues Land, eine neue Insel, die sich langsam aus dem Meer erhebt, wenn man sich mit dem Boot nähert. Dann sieht man die Wiesen und Felder und Wälder, die Städte mit ihren Höfen und Palästen, die Märkte, wo alles, was es auf dieser Welt gibt, feilgeboten wird.«
    Sie nickte. Sie wußte, daß er sie ermuntern wollte, aber sie hatte ihr Glück oben in den Bergen gelassen, dort in dem Flußtal, das im Dämmerlicht lag. In ihrem Herzen war Furcht, und diese Furcht wuchs täglich. Alles, was vor ihr lag, war ihr unbekannt. Sie kannte nichts außer der Wüste und den Gräbern. Und was nützte ihr das jetzt? Sie kannte die Gänge eines Labyrinths, das in Trümmern lag, sie kannte die Tänze, die vor einem zerstörten Altar getanzt wurden. Sie wußte nichts von Wäldern, Städten oder den Herzen der Menschen.
    Sie fragte plötzlich: »Wirst du dort bei mir bleiben?«
    Sie blickte ihn nicht an. Er schritt noch immer als weißhäutiger, kargischer Landmann neben ihr her, und er gefiel ihr nicht in dieser Verstellung. Aber seine Stimme war geblieben, es war die gleiche, die in der Dunkelheit des Labyrinths zu ihr gesprochen hatte.
    Er ließ sich Zeit mit der Antwort. »Tenar, ich gehe dorthin, wohin ich gesandt werde. Ich folge meinem Ruf. Bis jetzt war es mir nicht vergönnt, lange am selben Ort zu verweilen. Verstehst du das? Ich tue, was ich tun muß. Dorthin, wo es mir bestimmt ist, muß ich alleine gehen. Solange du mich brauchst, bleibe ich in Havnor. Und wenn du mich je wieder benötigst, rufe mich. Ich werde kommen. Selbst aus dem Grab würde ich kommen, wenn du mich rufst, Tenar! Aber ich kann nicht bei dir bleiben.«
    Sie erwiderte nichts. Nach einer Weile fügte er hinzu: »Du wirst mich dort nicht lange brauchen. Du wirst dort glücklich sein.«
    Sie nickte. Sie verstand ihn und nahm einfach hin, was er ihr sagte.
    Seite an Seite schritten sie dem Meer zu.

Die Fahrt zur See
    ER HATTE SEIN BOOT in einer kleinen Höhle am Fuß eines großen felsigen Vorgebirges versteckt, das von den benachbarten Dorfbewohnern das Wolkenkap genannt wurde. Zum Abendessen hatte ihnen einer der Bewohner eine Schale Fischsuppe gegeben. Im letzten Licht des grauen Tages kletterten sie über die Klippen zum Strand hinunter. Die Höhle war nichts weiter als ein schmaler Spalt, der sich ungefähr zehn Meter in den Fels hinein erstreckte. Der Sandboden war feucht, denn er lag nur wenig höher als die Flut. Man konnte den Eingang der Höhle vom Wasser aus sehen, und Ged meinte, daß es besser wäre, wenn sie kein Feuer anzündeten, denn es könnte die Fischer, die nachts zur See fuhren, neugierig machen und anlocken. So legten sie sich auf den Sand, der sich so weich anfühlte, aber steinhart war, wenn man seine todmüden
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