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Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan

Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan
Autoren: Ursula K. LeGuin
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wie eine Statue und rührte sich nicht.
    Die Dolchklinge war nicht länger als zehn Zentimeter und wies nur eine Schneide auf. Die Waffe war die Miniatur eines großen Opferschwertes der Stätte. Es hatte zur Kleidung der Priesterin der Gräber gehört und mußte mit dem Schlüsselbund und einem Gürtel aus Roßhaar, zusammen mit anderen Gegenständen, an deren Bedeutung sich kein Mensch mehr erinnern konnte, getragen werden. Noch nie hatte sie den Dolch benutzt, nur in einem der Tänze, die in der dunklen Mondnacht getanzt wurden, mußte sie ihn in die Höhe werfen und vor dem Thron auffangen. Der Tanz hatte ihr gefallen, er war wild und hatte keine Begleitmusik außer dem Trommeln ihrer eigenen Füße. Wie oft hatte sie sich geschnitten, als sie diesen Tanz übt, bis sie endlich behende nach jedem Wurf den Griff auffing. Die kleine Klinge war scharf, sie konnte einen Finger bis auf den Knochen durchschneiden, oder eine Schlagader am Hals. Tenar-Arha diente ihren Gebietern noch immer, obwohl diese sie im Stich gelassen hatten. Sie würden ihre Hand leiten und ihr zu ihrer letzten dunklen Handlung Kraft verleihen. Sie würden ihr Opfer entgegennehmen.
    Sie drehte sich dem Mann zu, das Messer lag in ihrer rechten Hand hinter ihrer Hüfte verborgen. Als sie das tat, hob er langsam sein Gesicht hoch und blickte sie an. Auf seinen Zügen lag der Ausdruck eines Menschen, der weit gereist war und Furchtbares gesehen hatte. Sie waren ruhig, doch voll Schmerz. Als er hinaufschaute zu ihr und sie immer länger ansah, klärten sich seine Züge. Endlich sagte er: »Tenar«, so als ob er sie begrüßte, und berührte den durchbrochenen, verzierten Silberreif an ihrem Gelenk. Das tat er, als müßte er sich vergewissern, voll Zutrauen. Er übersah den Dolch in ihrer Hand völlig. Er blickte weg von ihr, schaute auf die Wellen, die gegen den Felsen schlugen, und sprach mit großer Anstrengung: »Es ist Zeit … daß wir gehen.«
    Beim Klang seiner Stimme verflog ihr Zorn. Sie bekam Angst.
    »Du läßt sie hinter dir zurück, Tenar. Jetzt bist du wirklich frei«, sagte er, und mit plötzlich wiedergekehrter Stärke sprang er auf. Er reckte sich und zog den Gürtel fester um seinen Umhang. »Hilf mir mit dem Boot. Es liegt auf Treibholz, darauf habe ich es auch hereingerollt. So ist es gut, schieb … noch einmal … Jetzt, jetzt ist’s genug. Mach dich fertig, hineinzuspringen, wenn ich sage ›spring!‹ Es ist nicht so einfach, von hier mit einem Boot auszulaufen. – Noch einmal! Jetzt ist’s genug! Spring hinein!« – Und er sprang ihr nach, hielt sie fest, als sie vornüberfiel, und setzte sie auf den Boden. Dann, breitbeinig balancierend, ruderte er aufrecht stehend und ließ das Boot auf den Wogen der Ebbe hinausschießen zwischen den Felsen, vorbei am gischtumsprühten Ende des Vorgebirges, hinaus aufs offene Meer.
    Als sie weit genug vom seichten Wasser der Küste entfernt waren, zog er das Ruder ein und setzte den Mast. Das Boot sah jetzt, da sie drinnen saß und auf das Meer hinausschaute, sehr klein aus.
    Er setzte das Segel. Allem Zubehör sah man an, daß es nicht mehr neu, doch sorgfältig instandgehalten war. Das rote Segel war ordentlich geflickt, und das Boot selbst war blitzblank und in einwandfreiem, wenn auch gebrauchtem Zustand. Es entsprach seinem Herrn: es war weit herumgekommen und hatte viel Unbill erfahren.
    »Jetzt«, sagte er, »jetzt sind wir weg, sind endlich weg; wir haben es geschafft, Tenar. Spürst du es?«
    Sie spürte es. Die dunkle Hand, die ihr Herz ein ganzes Leben lang umklammert gehalten hatte, gab sie frei. Aber keine Seligkeit kam über sie, wie es in den Bergen geschehen war. Sie legte den Kopf auf die Arme und begann zu schluchzen, und ihre Wangen wurden salzig und naß. Sie weinte um die verlorenen Jahre ihres Lebens, die sie nutzlos im Dienst einer schrecklichen Macht gefront hatte. Sie weinte, und es schmerzte, denn die Freiheit tat weh.
    Sie hatte begonnen zu lernen, daß Freiheit schwer wog, daß sie eine Bürde, eine große und seltsame Last war, die der Seele zugemutet wird. Leicht konnte sie nicht genommen werden. Sie war kein Geschenk, sondern eine Wahl, die man traf, und die Wahl fällt oft schwer. Der Weg führt aufwärts, dem Licht entgegen, keiner weiß, ob der schwerbeladene Wanderer das Ende je erreicht.
    Ged ließ sie weinen und sprach kein tröstendes Wort. Auch als ihre Tränen versiegt waren und sie zurückschaute auf das niedere blaue Land, auf Atuan, redete er
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