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Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Titel: Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)
Autoren: Carson McCullers
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Erster Teil
    1
     
    Es gab in der Stadt zwei Taubstumme, die man immer zusammen sah. Jeden Morgen traten sie zeitig aus dem Haus, in dem sie wohnten, um Arm in Arm die Straße hinunter zur Arbeit zu gehen. Die beiden Freunde waren sehr verschieden. Der eine, der stets die Führung übernahm, war ein beleibter, verträumter Grieche. Im Sommer trug er ein gelbes oder grünes Polohemd, das vorn irgendwie in die Hose gestopft war und hinten lose heraushing. Wenn es kälter war, trug er darüber einen weiten grauen Pullover. Er hatte ein rundes, fettig glänzendes Gesicht, halbgeschlossene Augen und ein freundlich-blödes Lächeln um den Mund. Der andere Taubstumme war ein großer schlanker Mann mit wachen, intelligenten Augen. Er war stets schlicht und tadellos gekleidet.
    Jeden Morgen gingen die beiden Freunde ruhig und stumm bis zur Hauptstraße. Sobald sie einen gewissen Obst- und Süßwarenladen erreicht hatten, blieben sie ein Weilchen davor stehen. Spiros Antonapoulos, der Grieche, arbeitete bei seinem Vetter, dem Besitzer des Ladens. Er hatte die Süßigkeiten herzustellen, das Obst auszupacken und den Laden sauber zu halten. Bevor sie sichtrennten, legte John Singer, der dünne Taubstumme, meist die Hand auf den Arm des Freundes und sah ihm einen Moment ins Gesicht. Nach ihrem Abschied ging Singer allein über die Straße und weiter zum Juwelierladen, in dem er als Silbergraveur arbeitete.
    Am späten Nachmittag trafen die Freunde sich wieder. Singer wartete vor dem Obstladen, bis Antonapoulos nach Hause gehen konnte. Der Grieche war meist gerade dabei, gemächlich eine Kiste Pfirsiche oder Melonen auszupacken, oder er saß in der Küche hinter dem Laden und las ein Witzblättchen. Bevor sie gingen, griff Antonapoulos jedes Mal nach einer Tüte, die er tagsüber auf einem Küchenregal versteckte und in der er allerlei Essbares sammelte – ein bisschen Obst, ein paar Süßigkeiten oder einen Leberwurstzipfel. Für gewöhnlich schlurfte Antonapoulos dann leise zum Glaskasten mit den Fleischwaren und dem Käse. Er schob die hintere Scheibe auf, und seine fette Hand tastete liebevoll nach einem Leckerbissen, auf den er gerade Lust hatte. Manchmal merkte sein Vetter, der Ladenbesitzer, nichts davon. Wenn er ihn aber erwischte, nahm sein blasses, verkniffenes Gesicht einen vorwurfsvollen Ausdruck an. Dann schob Antonapoulos traurig den Leckerbissen von einer Ecke des Kastens in die andere. Währenddessen stand Singer sehr gerade da, die Hände in den Taschen, und schaute in eine andere Richtung. Er sah diese kleine Szene zwischen den beiden Griechen nicht gern. Denn außer dem Trinken und einem gewissen heimlichen Vergnügen gab es für Antonapoulos nichts Schöneres auf der Welt als Essen.
    In der Dämmerung gingen die beiden Taubstummen langsam nach Hause. Zu Hause redete Singer eifrig auf Antonapoulos ein. Seine Hände formten die Worte in rascher Zeichenfolge, und seine graugrünen Augen blitzten lebhaft in dem wachen Gesicht. Mit seinen hageren, kräftigen Händen erzählte er Antonapoulos alles, was ihm am Tag widerfahren war.
    Antonapoulos saß bequem zurückgelehnt da und sah Singer an. Er bewegte die Hände selten, um etwas zu sagen – und wenn, dann nur um mitzuteilen, dass er essen, schlafen oder trinken wolle. Diese drei Dinge drückte er mit den gleichen vagen und linkischen Gebärden aus. War er nicht zu betrunken, kniete er abends vor dem Bett nieder und betete eine Weile. Dann formten seine dicken Finger die Worte ›Heiliger Jesus‹ oder ›Gott‹ oder ›Liebste Maria‹ – die einzigen Worte, die Antonapoulos überhaupt sagte. Singer wusste nie recht, wie viel sein Freund von all dem, was er ihm erzählte, verstand. Aber das war nicht so wichtig.
    Sie teilten sich zwei Räume im oberen Stock eines kleinen Hauses, unweit des Geschäftsviertels. In der Küche, wo Antonapoulos auf dem Petroleumofen all ihre Mahlzeiten kochte, standen einfache harte Stühle für Singer und ein üppig gepolstertes Sofa für Antonapoulos. Die Einrichtung des Schlafzimmers bestand vor allem aus einem großen Doppelbett mit Daunendecke für den dicken Griechen und einer schmalen eisernen Liege für Singer.
    Ihr Abendessen nahm viel Zeit in Anspruch, weil Antonapoulos viel und sehr langsam aß. Nach dem Essen legte der dicke Grieche sich auf sein Sofa und schleckte langsam mit der Zunge jeden einzelnen Zahn ab – entweder weil er glaubte, das sei vornehm, oder weil er den Geschmack auskosten wollte. Singer spülte
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