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Der Dieb der Finsternis

Der Dieb der Finsternis

Titel: Der Dieb der Finsternis
Autoren: Richard Doetsch
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Prolog
    In der Wüste von Akbikistan
    Das Staatsgefängnis Chiron erhob sich auf dem Gipfel eines mehr als neunhundert Meter hohen Felsplateaus und bot einen eindrucksvollen Blick über die rostfarbene Steinwüste von Akbikistan, einer kleinen abtrünnigen Republik im Norden Pakistans. Achtzig Kilometer fernab jeder Zivilisation hatte man den dreistöckigen Steinbau in den Gipfel des einsamen Berges gemeißelt und damit die einzige Orientierungshilfe in einer ansonsten toten, öden Wüstenlandschaft geschaffen. Um Mitternacht, wenn die Wachtürme erleuchtet waren, ähnelte der Bau einer Krone auf dem Haupt eines Dämons.
    Das berüchtigte Zuchthaus war 1860 von den Briten errichtet worden, denen es als Kriegsgefangenenlager gedient hatte. Sah man davon ab, dass es inzwischen Strom gab, hatte sich in den hundertfünfzig Jahren, die seither vergangen waren, nicht viel verändert. Das knapp zwanzig Meter hohe Gebäude war ein Granitblock mit festungsartigen Mauern; an den vier Ecken stand jeweils ein achteckiger Wachturm.
    Seinen Namen – Chiron – verdankte das Gefängnis dem obersten Wächter des siebten Höllenkreises in Dantes Inferno , doch eilte ihm der Ruf voraus, dass es dort noch wesentlich schrecklicher zuging als in den düstersten Visionen des italienschen Dichters.
    In letzter Zeit war das Zuchthaus nur zu dreißig Prozent belegt, und das Wachpersonal war auf achtzehn Mann reduziert worden. Chiron standen keine ausreichenden finanziellen Mittel zur Verfügung; außerdem war das Zuchthaus Endstation für jene Sorte von Verbrechern, denen von Amnesty International nur wenig Aufmerksamkeit zuteil wurde. Eine Haftstrafe in Chiron war selbst dann ein Todesurteil, wenn der Häftling gar nicht zum Tode verurteilt worden war. Und es spielte keine Rolle, ob er fünf oder fünfzig Jahre abzusitzen hatte. Kein Gefangener erlebte den Tag seiner Freilassung.
    Der Tod kam auf unterschiedlichste Weise, meist durch Hinrichtung, je nach Laune des Gefängnisdirektors entweder auf dem elektrischen Stuhl oder durch Enthauptung. Bei einem Fluchtversuch starb man durch die Kugel eines Wachmanns, wenn man nicht vorher durch die Hand eines Mitgefangenen ums Leben kam. Die häufigste Todesart allerdings war Selbstmord.
    Es gab nur eine Möglichkeit, nach Chiron zu gelangen – über eine ausgefahrene Straße, die sich über knapp zehn Kilometer Länge hinauf zum Plateau schlängelte und kaum breit genug war für einen Lastwagen.
    Seit 1895 war niemand mehr aus dem Gefängnis ausgebrochen. Denn wer das Glück hatte, den meterdicken Mauern zu entkommen, hatte anschließend nur zwei Möglichkeiten: Entweder er rannte die zehn Kilometer lange Zufahrtsstraße hinunter – die vom einzigen Wachturm, der durchgängig besetzt war, rund um die Uhr beobachtet wurde – und trat anschließend einen aussichtslosen Marsch durch die tödliche Wüste an, oder er sprang von der tausend Meter hohen Klippe, die sich vor der Haftanstalt auftat, um fünfundzwanzig Sekunden die Luft der Freiheit zu schnuppern und dann von den Felsen am Fuße des Plateaus zerschmettert zu werden. Es war eines der wenigen Gefängnisse weltweit, die auf einen Stacheldrahtzaun verzichten konnten.
    Chiron war ein Ort, der perfekt dazu geeignet war, Menschen verschwinden zu lassen. Es war ein Ort, an dem man keinen Gedanken an das Wohl der Insassen verschwendete und wo man Wirtschaftskriminelle, Schwerverbrecher und kleine Ganoven zusammenpferchte in der Hoffnung, dass sie sich gegenseitig umbrachten.
    Simon Bellatori saß auf dem Lehmboden seiner zweieinhalb Quadratmeter großen Zelle; die Vollstreckung seines Todesurteils war für fünf Uhr früh angesetzt. Er hatte keine Ahnung, wer auf die Idee gekommen war, Hinrichtungen bei Morgengrauen vorzunehmen, aber er fand es barbarisch und unmenschlich.
    Bellatoris Verbrechen war ein simpler Einbruch in das Büro eines Geschäftsmannes gewesen, um einen Brief zu stehlen, der illegal bei einer Auktion ersteigert worden war und großen antiquarischen Wert besaß. Ein muslimischer Großwesir hatte den Brief an seinen Bruder geschrieben, einen christlichen Erzbischof, und die Welt hatte niemals von seinem Inhalt erfahren sollen. Bellatoris Diebstahl war ein Verbrechen, für das man in der Welt von heute nie und nimmer mit der Todesstrafe belegt worden wäre, aber die moderne Welt existierte innerhalb der alten Gefängnismauern Chirons nur in den Träumen der Häftlinge.
    Es war geplant gewesen, dass Simon und sein Partner so
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