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Nacht ohne Ende

Nacht ohne Ende

Titel: Nacht ohne Ende
Autoren: Sandra Brown
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    »Ich habe gerade die Kurznachrichten in meinem Autoradio gehört.«
    Tiel McCoy begann dieses Telefongespräch nicht mit überflüssigem Gerede, sondern sie kam gleich zur Sache, nachdem Gully sich am anderen Ende der Leitung gemeldet hatte. Es waren auch gar keine langen Vorreden nötig. Er hatte ihren Anruf wahrscheinlich ohnehin schon erwartet.
    Trotzdem stellte Gully sich erst einmal dumm. »Bist du das, Tiel? Na, genießt du deinen Urlaub bisher?«
    Ihr Urlaub hatte offiziell an diesem Morgen begonnen, als sie Dallas verlassen und auf der Interstate 20 Richtung Westen gefahren war. Sie war bis nach Abilene gekommen, wo sie einen Zwischenstopp eingelegt hatte, um ihren Onkel zu besuchen, der seit fünf J ahren in einem Pflegeheim lebte. Sie hatte ihren Onkel Pete als einen großen, robusten Mann mit einem respektlosen Sinn für Humor in Erinnerung, der fantastische Nackensteaks grillen und einen Softball weit über das Spielfeld hinweg schlagen konnte.
    Heute hatten sie zusammen Mittag gegessen - matschige Fischstäbchen und Dosenerbsen - und sich danach eine Folge von Guiding Light angesehen. Sie hatte ihn gefragt, ob sie irgendetwas für ihn tun könnte, solange sie da war, wie zum Beispiel einen Brief für ihn schreiben oder ihm ein paar Zeitschriften besorgen. Er hatte sie nur traurig angelächelt, ihr für ihr Kommen gedankt und sich dann einem Pfleger überlassen, der ihn wie ein Kind für sein Mittagsschläfchen ins Bett gepackt hatte.
    Draußen vor dem Pflegeheim hatte Tiel dankbar die sengend heiße, staubige Luft von West Texas in ihre Lungen gesogen, in der Hoffnung, den deprimierenden Geruch nach Alter und Resignation loszuwerden, der das Gebäude durchdrungen hatte. Sie war erleichtert gewesen, dass die familiäre Verpflichtung nun hinter ihr lag, hatte aber wegen dieser Erleichterung auch prompt ein schlechtes Gewissen gehabt. Mit äußerster Willensanstrengung schüttelte sie ihre Verzweiflung ab und erinnerte sich daran, dass sie schließlich Urlaub hatte.
    Dem Kalender nach war es noch gar nicht Sommer, aber der Mai war ungewöhnlich warm für die Jahreszeit. In der Nähe des Pflegeheims hatte es nirgendwo einen im Schatten liegenden Parkplatz gegeben, folglich war es im Inneren ihres Wagens derart heiß gewesen, dass sie Kekse auf dem Armaturenbrett hätte backen können. Sie drehte das Gebläse der Klimaanlage auf volle Stärke und fand einen Radiosender, der etwas anderes als Garth, George und Willie spielte.
    »Es wird eine herrliche Zeit werden. Es wird mir gut tun, mal von all dem Stress und der Hektik wegzukommen und eine Weile auszuspannen. Ich fühle mich jetzt schon sehr viel besser, weil ich es getan habe.« Sie wiederholte diesen inneren Monolog wie einen Katechismus, während sie sich von seinem Wahrheitsgehalt zu überzeugen versuchte. Sie war diesen Urlaub angegangen, als ob er gleichbedeutend mit der Einnahme eines scheußlich schmeckenden Abführmittels wäre.
    Hitzewellen flimmerten auf dem Highway, erweckten den Eindruck, als kräuselte sich die Fahrbahn in hypnotisierenden Wellenbewegungen. Das Fahren wurde zu einer rein mechanischen, geistlosen Tätigkeit. Ihre Gedanken schweiften ab. Das Radio lieferte nur ein Hintergrundgeräusch, das Tiel kaum noch wahrnahm.
    Aber als sie die Kurznachrichten hörte, war es, als hätte plötzlich jemand neben ihr laut »Buh!« gerufen, um sie zu erschrecken. Mit einem Ruck beschleunigte sich alles - der Wagen, Tiels Pulsschlag, ihre Gedanken.
    Augenblicklich kramte sie ihr Handy aus ihrer großen Ledertasche und rief Gully über seinen persönlichen Anschluss an. Wieder verzichtete sie auf jede unnötige Konversation, als sie jetzt zu ihm sagte: »Erzähl mir mal, was da abläuft.«
    »Was haben sie denn in den Radionachrichten gesagt?«
    »Dass heute Vormittag ein High-School-Schüler in Fort Worth Russell Dendys Tochter gekidnappt hat.«
    »Das ist auch so ziemlich das Wesentliche«, bestätigte Gully.
    »Das Wesentliche, aber ich möchte Einzelheiten wissen.«
    »Du bist im Urlaub, Tiel.«
    »Ich komme zurück. Bei der nächsten Ausfahrt werde ich wenden und zum Sender zurückfahren.« Sie warf einen Blick auf die Uhr am Armaturenbrett. »Ich schätze mal, ich werde so gegen -«
    »Moment, Moment! Wo genau bist du jetzt?«
    »Ungefähr fünfzig Meilen westlich von Abilene.«
    »Hmmm.«
    »Was, Gully?« Ihre Handflächen waren feucht geworden. Sie spürte wieder das vertraute Prickeln im Bauch, das sich nur dann bemerkbar machte,
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