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Der Engelmacher

Der Engelmacher

Titel: Der Engelmacher
Autoren: Stefan Brijs
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Vormittags einer Tür den letzten Anstrich verpasst hatte, als Doktor Hoppe und Frau Maenhout in die Küche gekommen waren, wo die Kleinen wie immer puppenhaft in ihrem Laufstall gesessen hatten.
    »War es wirklich Charlotte Maenhout?«, unterbrach Irma ihn sofort. »Aus der Aachener Straße?«
    Florent nickte selbstsicher und sagte, Charlotte Maenhout würde er aus einem Kilometer Entfernung erkennen, was niemand bestreiten konnte, denn keine andere Frau aus dem Dorf war so stramm gebaut wie die 68-jährige Lehrerin, die sich vor drei Jahren in Wolfheim niedergelassen hatte, als sie in Rente gegangen war. Sie war groß – ein Meter vierundachtzig – und hatte ein breites Kreuz und einen krummen Rücken, weil sie jahrelang Tag für Tag mehrere Stunden vornüber gebeugt gestanden hatte, um die unbeholfenen Schreibhände der jüngsten Schüler übers Blatt zu dirigieren. Durch diese Krümmung versank ihr Hals zwischen den klobigen Schultern, und um diesem Eindruck entgegenzuwirken, trug sie ihr langes, silbergraues Haar immer zu einem Dutt gebunden oder steckte es mit einer hölzernen Haarnadel hoch. Auffallend war auch ihr großer Busen, oder, wie Florent es umschrieb, ihr Riesenstapel Holz vor der Hütte.
    »Was hat sie gesagt? Was hat der Doktor gesagt?«, wollte Helga wissen.
    »Der Doktor hat ihr erstmal seine Kinder vorgestellt«, antwortete der Handwerker und hielt sich die Nase zu, um Doktor Hoppes Stimme nachzuahmen: »Das ist Raphael. Mit dem grünen Armband. Das ist Gabriel. Mit dem gelben Armband. Und der mit dem blauen Armband ist Michael.«
    Und in normalem Tonfall fügte er hinzu: »Sie haben so Plastikbänder um die Handgelenke. Wie bei den Kindern im Krankenhaus, versteht ihr? Bei den Farben bin ich mir nicht ganz sicher, aber so ähnlich war es. Und dann hat er zu den Kleinen gesagt, Frau Maenhout würde in Zukunft auf sie aufpassen kommen.«
    Die drei Frauen schüttelten die Köpfe, und Irma Nussbaum sprach laut aus, was alle dachten: »Warum in Gottes Namen sie? Sie ist nicht mal von hier.«
    »Wart mal ab«, unterbrach der Handwerker sie, »das war noch nicht alles. Gleich nachdem der Doktor das gesagt hatte, haben sie nämlich alle drei gleichzeitig aufgesehen und ihr zugezwinkert.«
    Die Frauen schauten ihn mit offenem Mund an.
    »So sah es zumindest aus«, schwächte er seine Erklärung ein wenig ab.
    »Und dann? Was hat Frau Maenhout dann gemacht?«, fragte Odette.
    »Nichts weiter. Sie hat gefragt, um welche Zeit sie kommen soll, und der Doktor hat gesagt: halb neun. Und dann ist sie gegangen. Genau wie jetzt ich. Wenn ich so frei sein darf, die Damen? Ich hab nämlich noch ein fettes Trinkgeld seiner Bestimmung zuzuführen.«
    Mit spitz vorgestreckten Armen bahnte er sich einen Weg zwischen den murmelnden Frauen hindurch. Nach ein paar Schritten wandte er sich noch einmal um und fügte hinzu: »Der Herr Doktor bezahlt gut. Ich schätze, Frau Maenhout wird keinen Grund haben, ihre Entscheidung zu bedauern.«
    Daraufhin stiefelte er geradewegs ins »Terminus«. Nach einem kurzen Moment der Stille lösten sich die Frauenzungen wieder.
     
    Am nächsten Morgen um halb neun strebte Charlotte Maenhout mit festem Schritt über die Napoleonstraße ihrem Ziel zu. Im Vorbeigehen winkte sie Jacob Weinstein zu, der gerade die kleinen Pfade auf dem Kirchhof mit der Stoßhacke von Unkraut säuberte und zurückgrüßte, indem er kurz das Kinn in die Luft reckte. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite hatte Irma Nussbaum schon vor einer guten halben Stunde hinter dem Küchenfenster Stellung bezogen. Die ehemalige Lehrerin hatte ein weißes, gehäkeltes Tuch um ihre breiten Schultern geschlagen. Ihre großen Brillengläser, eingefasst in ein Gestell aus Horn, blitzten ab und zu im Licht der bereits über die Dächer gestiegenen Sonne auf. Frau Maenhout klingelte am Tor des Doktorhauses und schaute sich dann kurz um – Irma erstarrte hinter der Gardine –, wobei ihr rundes Gesicht in auffälligem Kontrast zu ihrem grobschlächtigen, kräftigen Körper stand. In ihren funkelnden Augen, die durch die große Brille gut zu sehen waren, lag derselbe freundliche Ausdruck, der einst auch die Schulkinder friedlich gestimmt hatte angesichts einer Frau, die für sie eine Riesin war.
    Als die Haustür des Doktors aufging, sah Frau Maenhout wieder nach vorn. Irma beobachtete, wie Doktor Hoppe in der Türöffnung linkisch die Hand zum Gruß hob. Seinen Kittel hatte er noch nicht zugeknöpft. Mit großen Schritten
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