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Der Engelmacher

Der Engelmacher

Titel: Der Engelmacher
Autoren: Stefan Brijs
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spitze Metall seine Hand ganz durchdrungen hatte, hob er sie mitsamt dem Nagel hoch, zog Letzteren nach hinten heraus und betrachtete das Loch, spähte kurz hindurch. Dann wickelte er einen Verband um die Hand.
    Er postierte sich wieder am Kreuz, wobei er sich mit den Füßen auf dem Boden abstützte. Er stellte sich auf die Zehen, brachte die Füße voreinander und schlug mit der Linken einen Nagel hindurch. Der Schmerz brannte, in der Hand und in den Füßen. Trotzdem fuhr er fort. Er hatte einen Auftrag.
    Er richtete sich wieder auf und streckte den rechten Arm aus. Die rechte Hand legte er ans Ende des Querbalkens und schlug mit der linken einen Nagel hindurch. Er hämmerte so lange, bis der Nagel tief im Holz saß. Der Schmerz ließ schon wieder etwas nach.
    Mit einer letzten Kraftanstrengung warf er den Hammer zwischen die Tannen auf dem Hügel. Dann löste er mit den Zähnen den Verband um seine Linke, sah noch einmal durch das Loch in deren Mitte und hob sie dann zu dem Nagel, den er bereits in das Kreuz geschlagen hatte. Ganz leicht ließ sich das Loch über den Nagel schieben.
    So hing er.
    Er wartete geduldig. Die Musik war bereits näher gekommen.
    Er wusste, wenn er sich vorbeugen und zugleich seine Füße vom Boden heben würde, würden erst seine Beine brechen, und dann würde er ersticken. Darüber hatte er nachgedacht. Auch über seine letzten Worte hatte er nachgedacht. Nicht lange. Johannes-Evangelium, Kapitel 19, Vers 30. Da standen sie.
    Die Prozession tauchte auf, mit Pastor Kaisergruber an ihrer Spitze. Sogar der würde letzten Endes glauben müssen, dass Victor gut war. Dessen war er gewiss, als sein Blick den des Priesters traf.

12
    »Hier, beim Dreiländereck. Hier hat das letzte Opfer den Tod gefunden. Ein gewisser Rex Cremer, ein Deutscher.« Jacques Meekers tippte mit dem Zeigefinger auf die Generalstabskarte von Wolfheim und Umgebung. »Das Unglück selbst passierte noch vor dem Tod des Doktors, aber gestorben ist er erst an jenem Abend, im Aachener Krankenhaus. Und wir haben es auch erst später erfahren, am nächsten Tag. Was hier in La Chapelle passiert war, drängte natürlich alles andere in den Hintergrund. Jedenfalls, der Mann fuhr einfach viel zu schnell. Das haben verschiedene Zeugen gesehen. Er raste von dieser Seite des Vaalserbergs zum Dreiländereck hinauf, und gleichzeitig kam von der anderen Seite, von Vaals her, ein Autobus. Der Busfahrer hat offenbar noch gehupt, aber der Mann, also der Deutsche, ist so erschrocken, dass er das Steuer ganz weit rumriss. Dem Bus konnte er gerade noch ausweichen, aber das Loch wurde ihm zum Verhängnis. Dieses Loch, wo der neue Turm hochgezogen wird. Voll durch die Abzäunung auf den Abgrund zu, und einer von den Betonpfeilern …«
    »Jetzt lass mal gut sein, Jacques. Die Geschichte hast du schon tausend Mal erzählt. Und der Unfall hat doch mit den anderen Sachen, die hier passiert sind, gar nichts zu tun. Das war doch blanker Zufall.«
    »Und jetzt hier«, fuhr Jacques Meekers unbeirrt fort, »wenn man jetzt von hier, vom Haus des Doktors, wo der Walnussbaum stand, eine Linie zum Dreiländereck zieht, dann sieht man ganz deutlich, dass das Unheil sich genau in der Verlängerung der Baumwurzeln ausgebreitet hat.«
     
    Am Samstag, den 19. Mai 1990, wurde der neue Baudouin-Turm offiziell eingeweiht. Unter den zahlreichen Anwesenden befanden sich auch Lothar und Vera Weber. Sie hatten eine Babytragetasche mit ihrem Kind dabei, das an jenem Tag gerade vier Monate alt geworden war. Es war ein Junge, und sie hatten ihn Isaak genannt.
    Zwei Tage zuvor hatten sie die gute Neuigkeit erfahren. Die Tests im Krankenhaus hatten ergeben, dass das Gehör des kleinen Isaak normal war. Das war eine enorme Beruhigung, erst recht nach dem Schrecken, den sie bei der Geburt bekommen hatten.
    Es war das erste Mal, dass sie ihren Sohn in der Öffentlichkeit zeigten. Jetzt, nachdem er die Operation hinter sich hatte, ging das. Sie war hervorragend gelungen. Ordentlich, mit der modernsten Technik ausgeführt. Dadurch wäre später kaum noch etwas davon zu sehen. Eine unauffällige Narbe. Nicht so wie früher.
    Viele Einwohner bewunderten an jenem Nachmittag das Kind, und alle warfen sie auch einen verstohlenen Blick auf die Missbildung. Aber niemand sagte etwas, wie auch in den letzten vier Monaten niemand etwas gesagt hatte. Und doch wussten alle, wann und wo es genau passiert war. An jenem Tag auf dem Kalvarienberg, als Vera so erschrocken war. Da war es
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