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Kultur 08: Der Algebraist

Kultur 08: Der Algebraist

Titel: Kultur 08: Der Algebraist
Autoren: Iain Banks
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    Ich habe eine Geschichte zu erzählen. Sie hat viele
Anfänge und vielleicht auch einen Schluss. Oder auch nicht.
Anfänge und Schlüsse sind ohnehin immer willkürlich;
Erfindungen, Hilfsmittel. Wo fängt eine Geschichte wirklich an?
Alles steht in einem Kontext, einem alles übergreifenden
epischen Zusammenhang. Immer gibt es etwas vor den geschilderten
Ereignissen, es sei denn, wir wollten jedes Mal mit ›URKNALL! Expansion! Sssssssss…‹ beginnen und alles auflisten,
was danach im Universum geschah, bevor wir endlich unser eigentliches
Thema in Angriff nähmen. Und auch kein Ende ist endgültig,
es wäre denn das Ende aller Dinge…
    Dennoch habe ich eine Geschichte zu erzählen. Meine eigene
Rolle darin war so verschwindend gering, dass ich mir nicht
anmaße, mich mit einem eigenen Namen einzuführen. Immerhin
war ich dabei, als alles begann, und durfte einen dieser
willkürlichen Anfänge miterleben.
     
    Man sagt, aus der Luft betrachtet schmiege sich das Herbsthaus wie
eine riesige graurosa Schneeflocke an die welligen grünen
Hänge. Es liegt auf der langen, flachen Geländestufe, mit
der die Nördliche Tropische Hochebene nach Süden hin
abschließt. An der Nordseite des Hauses breiten sich die
verschiedenen klassischen Gartenanlagen und die Bauerngärten
aus, deren Pflege mir Pflicht und Freude zugleich ist. Etwas weiter
oben erhebt sich eine ausgedehnte Tempelruine, angeblich von einer
Spezies namens Rehliden erbaut (6ar, stark dezimiert oder
ausgestorben, je nachdem, welcher Quelle man Glauben schenken will).
Auf jeden Fall haben sie diese Gegend längst verlassen.
    Die mächtigen weißen Säulen des Tempels ragten
einst an die hundert Meter hoch in unsere dünne Luft, doch nun
liegen die Kolosse mit ihren Kanneluren und Streifen auf dem Boden
oder sind zur Hälfte im torfigen Erdreich der naturbelassenen
Landschaft versunken. Die oberen Enden – der langsame Sturz bei
halber Standardschwerkraft muss ein eindrucksvolles Schauspiel
gewesen sein – schlugen tiefe Krater in die Erde und warfen
lange, wulstige Wälle auf. Diese hohen Dämme wurden in den
Jahrtausenden seit ihrer plötzlichen Entstehung durch Erosion
und durch die vielen kleinen Erdbeben auf unserer Welt langsam
abgetragen, so dass die Erde zurückrutschen und die breiten
Gräben um die Säulenenden wieder auffüllen konnte. Nun
weist das Gelände nur noch eine Reihe von sanften Wellen auf,
eine Serie von flachen Tälern, aus denen die frei liegenden
Säulenteile bleich hervorragen, als wären es die blanken
Knochen unseres kleinen Planetenmondes.
    Eine Säule war quer über ein flaches Flusstal gerollt
und bildet nun einen schrägen, zylinderförmigen Damm. Das
Wasser fängt sich in einer der metertiefen Zierrillen, die sich
über die ganze Länge ziehen, fließt hinab zum
kunstvoll gestalteten Kapitell und stürzt in vielen
hübschen Katarakten in einen tiefen Teich gleich unterhalb der
hohen, dichten Hecken an der oberen Grenze unseres Parks. Hier wird
es gefasst und weitergeleitet. Ein Teil gelangt in eine große
Zisterne, aus der die Springbrunnen vor dem Haus gespeist werden. Der
Rest fließt in den Bach, der über Stufen und Schwellen in
vielen Windungen zu den Zierteichen und dem Halbgraben führt,
der das eigentliche Haus umgibt.
    Ich stand inmitten von triefend nassen Exer-Rhododenronzweigen und
Schlinggewächsen unterhalb einer steilen Stufe bis über die
Hüften im plätschernden Wasser, spreizte mich mit drei
Gliedmaßen ein, um nicht von der Strömung fortgerissen zu
werden, und stutzte ein besonders störrisches Moilgestrüpp
am Rand einer höher gelegenen und mit ziemlich kümmerlichem
Scalpygras bewachsenen Wiese – ein an sich lobenswerter, aber
gescheiterter Versuch, diese bekanntlich besonders klumpige Grassorte
anzusiedeln… ach, ich schweife ab, ich darf mich nicht
hinreißen lassen, das Scalpygras tut nichts zur Sache –
als der junge Herr pfeifend, die Hände hinter dem Rücken
verschränkt, von seinem Morgenspaziergang durch die oberen
Steingärten zurückkam. Er blieb über mir auf dem
Kiesweg stehen und lächelte zu mir herunter. Ich drehte den
Kopf, ohne mit dem Schneiden aufzuhören, schaute nach oben und
nickte so gemessen, wie es mir in dieser unbequemen Haltung
möglich war.
    Von dem violetten Himmelsstreifen, der im Osten über dem
gewölbten Horizont (Berge im Dunst) und unter Nasquerons
gewaltiger Masse sichtbar war, strömte Sonnenlicht herab. Der
Gasriese (ein Flickenteppich in allen Farben des
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