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Der Engelmacher

Der Engelmacher

Titel: Der Engelmacher
Autoren: Stefan Brijs
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anderen näher heran.
    »Ihre Köpfe …«, sagte er langsam, »ihre Köpfe sind gespalten.« Und in einer schnellen Bewegung zog er mit der flachen Rechten einen vertikalen Strich von seiner Stirn über die Nase bis unters Kinn.
    »Tschack!«, sagte er.
    Erschrocken wichen Gunther und Seppe einen Schritt zurück, während Robert und Julius den langen Meekers anstarrten, als könne dessen schmales Gesicht ebenfalls jeden Moment aufreißen und in zwei Teile auseinanderfallen.
    »Ich schwöre! Man kann ihnen bis ganz tief in den Hals reingucken. Und außerdem, ohne Scheiß, außerdem kann man ihre Gehirne sehen.«
    »Ihre was?«, fragte Gunther.
    »Ih-re Ge-hir-ne!«, wiederholte der lange Meekers und tippte dem tauben Schüler mit dem Zeigefinger an die Stirn.
    »Iiiiiiee!«, rief der aus.
    »Wie sehen die denn aus?«, fragte Robert.
    »Wie Walnüsse. Nur viel größer. Und schleimiger.«
    »Boah«, sagte Julius, dem ein Schauer über den Rücken lief.
    »Wenn das Fenster offen gewesen wäre«, fuhr der lange Meekers unbeirrt fort und streckte dabei den Arm aus, »hätt ich die einfach so anfassen können.«
    Die anderen Jungs verfolgten die Bewegung seiner zu einer Klaue gekrümmten Hand mit offenem Mund. Aber gleich darauf deutete er mit derselben Hand nach vorne und lenkte so alle Blicke auf das etwa dreißig Meter entfernt stehende Taxi, dessen hintere Tür Victor Hoppe gerade öffnete. Der Doktor beugte sich ins Wageninnere und brachte eine große dunkelblaue Babytragetasche zum Vorschein, aus der noch immer ein entsetzliches Geheul aufstieg. An den Trageriemen schleppte er sie den Pfad entlang ins Haus, auf dem Fuß gefolgt von dem Taxifahrer, der zwei große Koffer trug. Nach etwa drei Minuten, während derer es auf dem Dorfplatz von Stimmen nur so schwirrte, kam der Fahrer wieder nach draußen, zog die Haustür hinter sich zu, hastete zu seinem Wagen und fuhr sichtlich erleichtert davon.
    Im »Terminus« führte Jacques Meekers an jenem Nachmittag das große Wort und beschrieb ausführlich, was sein Sohn gesehen hatte, wobei er vor keiner Übertreibung zurückschreckte. Vor allem die älteren Einwohner waren ganz Ohr, und sie wussten zu berichten, dass auch Victor Hoppe selbst eine Missbildung im Gesicht hatte.
    »Eine Hasenscharte«, erklärte Otto Lelieux.
    »Wie sein Vater«, erinnerte sich Ernst Liebknecht. »Er gleicht ihm übrigens aufs Haar.«
    »Auch wenn das Haar schon Rost ansetzt«, lachte Wilfred Nussbaum. »Genauso wie der Bart. Habt ihr das gesehen? Rot wie … wie …«
    »Wie das Haar des Teufels!«, rief der auf einem Auge blinde Josef Zimmermann plötzlich aus, woraufhin es in dem Wirtshaus sehr still wurde. Alle Blicke waren auf den alten Mann gerichtet, der einen Finger warnend erhoben hatte und sich halb betrunken erneut vernehmen ließ: »Und er hat seine Racheengel mitgebracht! Seid wachsam, denn sie werden zuschlagen, sobald sie die Gelegenheit bekommen!«
    Es war, als hätten diese Worte etwas freigesetzt, denn nun tauchten weitere Geschichten auf, die den Doktor in einem schlechten Licht erscheinen ließen. Alle wussten irgendetwas über ihn oder seine Eltern zu berichten, und je später der Abend wurde, desto mehr Geschichten wurden erzählt, die die meisten bloß irgendwo aufgeschnappt hatten, deren Wahrheit aber niemand anzweifelte.
    »Er ist in einem Irrenhaus aufgewachsen.«
    »Das hat er von seiner Mutter. Die ist an Wahnsinn gestorben.«
    »Pastor Kaisergruber hat ihn damals getauft. Der Junge hat Zeter und Mordio geschrien.«
    »Es heißt, sein Vater hätte sich … ihr wisst schon … an dem Baum neben seinem Haus.«
    »Sein Sohn ist nicht einmal zur Beerdigung erschienen.«
    »Seither hat ihn niemand mehr gesehen.«
    »Das Haus ist nur ein einziges Mal vermietet gewesen. Nach drei Wochen waren die Mieter schon wieder draußen.«
    »Poltergeister. Haben sie gesagt. Ständig war da so ein Klopfen.«
    In den darauf folgenden Wochen tauchte Doktor Hoppe mit einer solchen Regelmäßigkeit im Dorf auf, dass man die Uhr danach stellen konnte. Jeden Montag-, Mittwoch- und Freitagvormittag schlug er um Punkt halb elf immer den gleichen Weg ein, der ihn von der Geschäftsstelle der Bank in der Galmeistraße über die Post auf der Aachener Straße zu dem kleinen Laden von Martha Bollen auf der gegenüberliegenden Seite des Dorfplatzes führte. Zielstrebig und mit gesenktem Kopf hastete er von einem Ort zum nächsten, als wüsste er sich beobachtet und wollte so schnell wie möglich
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