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Der Engelmacher

Der Engelmacher

Titel: Der Engelmacher
Autoren: Stefan Brijs
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dem Vaterunser begonnen. Lothar sah in den Himmel hinauf, wo sich graue Wolken zusammenzogen. Das Gewitter würde wohl noch vor dem Abend losbrechen.
    Bei der siebten Station, »Jesus tröstet die weinenden Frauen«, sah er endlich wieder seine Frau. Er hatte bereits ein paar Mal vergeblich zwischen den vielen Menschen nach ihr Ausschau gehalten. Verträumt starrte sie vor sich hin, und wieder sah er, wie sie sich selbst die Hand auf den Bauch legte. Oh ja, sie war schwanger.
    »Gib, dass ich auch die Kraft aufzubringen vermag«, hörte er Pastor Kaisergruber gerade vorlesen, »meine eigene Trübsinnigkeit zu vergessen und meinen Nächsten Trost zu spenden.«
    Das fand er hübsch gesagt, und als gleichzeitig seine Frau ihre Augen zu ihm aufschlug, überlief ihn zum zweiten Mal an diesem Nachmittag ein Schauder. Er lächelte ihr zu, und sie lächelte zurück. Dann nickte sie kurz, als wollte sie ihm sagen, dass er seine Sache gut machte. Das gab ihm die Kraft, mit angemessenem Stolz weiterzulaufen, aufrecht und die Nase in die Luft gereckt, als wäre die Fahnenstange plötzlich federleicht.
    Nach einer Dreiviertelstunde war die Prozession bei der elften Station angekommen: »Jesus wird ans Kreuz genagelt«. Lothar betrachtete die Arbeit des Bildhauers. Obwohl die Figuren vollständig aus weißem Stein bestanden und ziemlich klein waren, sahen sie täuschend echt aus. Fast hatte man den Eindruck, als hielten sie nur kurz still und würden sogleich wieder anfangen, sich zu bewegen. Vor allem der Gefühlsausdruck der Gesichter war gut getroffen. Die hoffärtigen Richter, die betrübten Frauen, die pflichtbewussten Handwerker mit den Hämmern und schließlich Jesus, der sich duldsam ans Kreuz schlagen ließ.
    »Geduldig hast du diese Peinigung erlitten«, las der Priester vor.
    Lothar sah sich erneut nach seiner Frau um. Diesmal entdeckte er sie nicht, aber gleich würde er sie bestimmt wieder sehen, wenn sie auf den großen Platz mit der zwölften Station kamen. Das war immer ein besonderer Moment. Nicht nur, weil die Prozession dann fast vorbei war, sondern auch, weil es jedes Mal wieder beeindruckend aussah. Nachdem sie elf Stationen lang einem schmalen und krummen Pfad gefolgt waren, den hohe Bäume säumten, eröffnete sich dann plötzlich ein weiter, offener Platz. Es sah dann immer aus, als risse der Himmel auf, solche Fluten von Licht ergossen sich über die frommen Pilger. Auch das steinerne Bildnis der zwölften Station fand Lothar immer wieder äußerst imposant. Die sieben lebensgroßen Figuren oben auf dem Hügel, mit Jesus am Kreuz in der Mitte und den beiden Mördern links und rechts davon. Auch diese Skulpturen sahen sehr echt aus. Wie aus Fleisch und Blut. Sie sahen so echt aus, dass man sich fragte, wie lange die Personen es wohl noch aushalten würden, dort am Kreuz zu hängen.
    »Wir beten dich an, Herr Jesus Christus, und benedeien dich«, sagte Pastor Kaisergruber. Das Gebet bei der elften Station war zu Ende.
    »Denn durch dein heiliges Kreuz hast du die ganze Welt erlöst«, ergänzten die Dorfbewohner.
    Der Zug setzte sich wieder in Bewegung. Das Zwei-Mann-Orchester intonierte »Herr, gib uns deinen Frieden«. Lothar holte tief Luft und hielt die Fahne noch etwas höher. Kurz sah er sich zu Florent Keuning um und nickte ihm zu. Der Gelegenheitsarbeiter hob den ausgestreckten Daumen. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte Lothar das Gefühl, dass alle ihm beistanden, und das tat ihm gut. Doch wenig später bedrängten ganz andere Gefühle sein Gemüt. Pastor Kaisergruber auf dem Fuße folgend, nahm er die letzte Biegung und stand dann plötzlich auf dem großen, leeren Platz, der sich viele Meter weit vor seinen Augen erstreckte. Die Lichtexplosion, die er erwartet hatte, blieb jedoch weitestgehend aus, denn eine bedrohliche kohlrabenschwarze Wolke hatte die Sonne verdüstert. Und noch enttäuschter war er, als sein Blick auf den Hügel fiel, auf dem die zwölfte Station dargestellt war. Zwei der Figuren waren verschwunden! Die beiden Mörder, er sah es auf Anhieb. Sie hingen nicht mehr an ihren Kreuzen, nur Jesus war noch da. Lothar sah sich zu Florent Keuning um, der immer blasser wurde, bis er kreidebleich geworden war, genau wie die Jesusfigur am Kreuz. Er wandte sich wieder um, ging weiter und hörte plötzlich hinter sich Gemurmel, dem schon bald erste Schreie folgten. Vor allem von Frauen, ein schrilles Aufkreischen. Und dann sah er es auch. Plötzlich. Und er hörte es. Alle hörten es jetzt.
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