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Der Engelmacher

Der Engelmacher

Titel: Der Engelmacher
Autoren: Stefan Brijs
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auf und in dem Körper aufgescheucht. Zu Hunderten waren sie gleichzeitig aufgeflogen, wie aus einem Topf, dessen Deckel angehoben worden war. Da hatte er den Blick gesenkt und sie entdeckt. Sie lag auf dem Rücken. Nach dem einen Mal, das er sie gesehen hatte, konnte er sich nicht mehr an ihr Gesicht erinnern, doch er wusste, dass sie es war. Ihr Oberkörper war entblößt, und obwohl die eine Wunde größer war, viel größer, sah er doch erst die andere, die kleinere. Sein Blick glitt von ihrem Kopf zu ihrer Brust, wo sich ein Schnitt befand, kaum einen Daumen breit, aber der Schnitt war so genau, so chirurgisch präzise, dass er sofort wusste: Dieser eine Hieb, knapp neben das Brustbein, hatte den Tod verursacht. Innerhalb weniger Sekunden. Und deshalb wusste er auch, dass die andere, die viel größere Wunde, die er danach sah, hinterher entstanden war. Dabei war eine frühere Wunde wieder geöffnet worden, sorgfältig entlang der Narbe. Und er wusste auf Anhieb, dass Victor etwas aus diesem Bauch herausgeholt hatte, dasselbe, was jetzt wieder von den Fliegen dort hineingelegt wurde, von den hunderten und zighunderten Fleischfliegen, die Ei für Ei in dem verfaulenden Schoß hinterließen, auf dass neues Leben entstehe.
    Drei Sekunden lang nahm Rex dieses Bild wahr. Drei Sekunden, in denen der Boden unter seinen Füßen aufzureißen schien und er in die Tiefe hinabgezogen wurde. Er wollte einen Schrei ausstoßen, aber die Übelkeit kam dem Schrei zuvor. Es brannte in seinem Bauch, als wimmelte es auch dort von Fliegen, die zu hunderten hinausschwärmen wollten.
    Er erbrach sich. Zum zweiten Mal an jenem Tag. Außerdem heulte er. Zum ersten Mal, nicht nur an diesem Tag, sondern zum ersten Mal seit Jahren. Er kam sich vor, als wäre er gerade aus einer geistigen Umnachtung erwacht und sähe jetzt erst, was er angerichtet hatte. So fühlte er sich. Als hätte er selbst es getan. Die Kinder in den Glasgefäßen. Die Frau auf dem Boden. Das war sein Werk. Keinen Augenblick lang dachte er noch an Victor Hoppe. Er sah sich um und nahm nur noch wahr, was er angerichtet hatte. Er ließ das Bild auf sich wirken, diesmal länger als nur drei Sekunden, wie um sich selbst zu strafen. Und während er weiter schaute und weiter heulte wie ein kleines Kind, wurde ihm langsam klar, dass niemand anderes dies sehen durfte. Dass die einzige Möglichkeit, all dies noch ungeschehen zu machen, darin bestand, es auszulöschen. Komplett.
    Darum setzte er in die Tat um, was er soeben schon vorgehabt hatte. Er öffnete das erste Gefäß und goss es aus. Über die Frau. Den ganzen Inhalt. Das Formalin, und mit dem Formalin auch den Körper, der dort landete, wo er einmal hergekommen war. Ein schwarzer, vibrierender, dichter Schwarm von Fliegen erhob sich, nur um sich sogleich wieder niederzulassen, dem instinktiven Drang nach Fortpflanzung folgend.
    Auch er selbst handelte instinktiv. Er handelte, um zu überleben. Er war sich dessen bewusst, einerseits, aber andererseits auch nicht. Jede seiner Handlungen war bewusst geplant, aber die Ausführung dieser Handlungen vollzog sich größtenteils unbewusst. Er wusste gut, was er tat, aber nicht, dass er es tat.
    Der Inhalt des zweiten und des dritten Gefäßes nahm denselben Weg. Als Föten kehrten die Kinder zurück. Einen Teil des Formalins aus dem dritten Gefäß behielt er zurück, um damit auf dem Boden eine Spur bis zur Tür zu legen. Dann sah er sich nach weiteren Flüssigkeiten um, die er über den Raum verteilte. Und er wusste, dass die Menge dieser flüssigen Stoffe in ihrer Kombination mehr als ausreichend sein würde, um alle Spuren zu tilgen.
    Und während dieser Vorbereitungen fragte er sich zu keinem Zeitpunkt, wo Victor war, ob er überhaupt da war. Das spielte keine Rolle.
    Auch als er schließlich seinen Plan zu einer umfassenden Auslöschung aller Spuren in die Praxis umsetzte, dachte er nicht an Victor. Er dachte an sich selbst. Wie eigentlich schon immer.

11
    Die Zeit, in der die Wolfheimer zu Fuß nach La Chapelle gepilgert waren, war schon lange vorbei. Das zentnerschwere Bildnis der Heiligen Rita, das zu dieser Gelegenheit von sechs Mann getragen worden war, hatte die Kirche schon lang nicht mehr verlassen, und die Musikkapelle, die einst aus zwanzig Instrumentalisten bestanden hatte, war inzwischen auf eine Pauke und eine Tuba zusammengeschrumpft. Die einzige erhalten gebliebene Tradition bestand darin, dass der Vorstand der Kirchengemeinde jedes Jahr einen besonders
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