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Der Engelmacher

Der Engelmacher

Titel: Der Engelmacher
Autoren: Stefan Brijs
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Schultern.
    »Ich weiß, warum Sie kommen«, sagte Victor. »Sie sind gekommen, um mich zu verraten. Ich weiß es.«
    »Wie bitte?«
    Mit großen Augen sah Rex ihn an, aber der Doktor wich seinem Blick aus.
    »Sie sind gekommen, um mich zu verraten«, wiederholte er.
    »Bald werden Sie wiederkommen mit einer großen Schar, und dann werden Sie mich verraten.«
    Der Tonfall war nicht bedrohlich, und dennoch bekam es Rex mit der Angst zu tun. Victor hatte sich schon immer komisch benommen, aber so, wie er jetzt vor ihm stand, leicht wankend, mit gesenktem Kopf, die eine Hand auf seine Seite gepresst, die andere zu einer Klaue gekrümmt, so hatte er ihn noch nie gesehen.
    »Die Menschen verstehen mich nicht«, fuhr Victor fort. »Sie glauben mir nicht, die Menschen. Glauben Sie mir noch?«
    Rex entschied sich, nicht darauf einzugehen. Er wollte den anderen nicht provozieren. Aber Victor wartete die Antwort seines Gegenübers nicht ab. Unbeirrt sprach er weiter: »Man darf mich nicht einsperren. Das darf man nicht. Das geht nicht. Wenn man mich einsperrt, kann ich meinen Auftrag nicht erfüllen. Ich habe einen Auftrag.«
    »Victor, vielleicht …«
    Ruckartig hob Victor den Arm und streckte drohend den Zeigefinger vor.
    » Sie werden mich verraten!«, erhob er die Stimme. » Sie werden derjenige sein! Weh aber dem Menschen, der mich verraten wird! Es wäre demselben Menschen besser, dass er nie geboren wäre! Sie werden hängen, wussten Sie das schon? Sie werden hängen! «
    Rex wich zurück. Kurz traf sein Blick den von Victor. Ein leerer Blick. Als wäre er blind. Als schaue er zwar, aber sehe nichts. Rex tat noch einen Schritt zurück. Victor ließ den ausgestreckten Arm wieder sinken und griff nach dem Saum seines Hemdes, »Sie glauben mir nicht, was? Sie glauben mir noch immer nicht«, sagte er und zog sein Hemd aus der Hose, immer höher, bis sein leichenblasser, abgezehrter Bauch entblößt war.
    Rex schüttelte den Kopf.
    »Wollen Sie es sehen? Werden Sie es dann glauben?«, rief Victor. Er zog das Hemd noch höher. In seiner Seite klaffte ein Schnitt von beinahe zehn Zentimetern Länge. »Wollen Sie es auch anfassen? Glauben Sie es dann?«
    Demonstrativ langsam führte Victor die Hand zur Wunde und steckte zwei, drei Finger in den Spalt. Er zog, nein, riss die Wunde auf.
    Mit abgewandtem Blick wich Rex möglichst unauffällig zurück. Ihm wurde immer beklommener zumute. Rasch drehte er sich dann um und stürzte zu seinem Auto. Er riss die Tür auf, ließ sich in den Sitz fallen und steckte den Schlüssel ins Zündschloss. Kurz sah er über die Schulter zurück, ob Victor ihm gefolgt war, aber der stand noch immer am Tor, die Finger tief in die Wunde versenkt.
     
    Beim Dreiländereck hielt er an, weil ihm übel geworden war.
    Die Stimme. Die Worte. Die Wunde. Die Finger in der Wunde. Dazu die drückende Hitze. Die Beklemmung. Es war Rex zu viel geworden. Er hatte angehalten und sich übergeben. Langsam war die Beklommenheit von ihm gewichen. Aber Victors Stimme hallte weiter in seinem Kopf nach.
    Sie sind gekommen, um mich zu verraten. Bald werden Sie wiederkommen mit einer großen Schar, und dann werden Sie mich verraten.
    Das waren noch die harmlosesten Dinge, die Victor gerufen hatte. Das waren Wahnvorstellungen. Nur hatte er keine Ahnung, wie Victor darauf gekommen war oder wer ihm das eingeredet hatte.
    Sie werden hängen!
    Diese Worte machten ihm mehr zu schaffen. Je länger er darüber nachdachte, desto mehr kamen ihm die Worte vor wie eine Würgschnur um seinen Hals. Victor würde ihn in seinen unaufhaltsamen Fall mitreißen. Er würde versuchen, die Verantwortung von sich abzuwälzen. Er würde sagen, Rex Cremer habe alles gewusst und doch zu keinem Zeitpunkt eingegriffen, ja, er habe ihm sogar zugeraten. Und das Ganze allererst in Gang gesetzt, damals, an jenem 9. April 1979. Und er würde den Beweis vorzeigen. Den gab es schließlich, schwarz auf weiß, datiert, handschriftlich.
    Durch Sie hat Gott jetzt das Nachsehen.
    Von solchen Gedanken gequält, stapfte Rex Cremer auf dem Gipfel des Vaalserbergs auf und ab. Er ging zum Dreiländereck hinüber, dann zum höchsten Punkt der Niederlande, dann wieder zum Dreiländereck, wo er den Pfeiler umkreiste: Niederlande, Deutschland, Belgien. Nirgends fand er Ruhe.
    Schließlich trat er an die Absperrung der Baugrube. Er spähte hinab und konnte bis auf den Grund sehen, gut zehn Meter tief. Die vier Betonpfeiler schienen sich mit infernalischer Kraft aus dem
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