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Der Engelmacher

Der Engelmacher

Titel: Der Engelmacher
Autoren: Stefan Brijs
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Innersten der Erde erhoben zu haben, und die Eisenstangen schwankten im Wind, als wollten sie nach etwas greifen. Minutenlang blieb er bei der Grube stehen, die Finger im Gestänge der Abzäunung verhakt, und starrte in die Tiefe.
    »Nicht springen!«, rief plötzlich jemand.
    Er erschrak und sah sich um. Ein Mann lief lachend an ihm vorbei.
    Die Stimme hatte ihn aus seinen Grübeleien gerissen. Natürlich wollte er nicht springen. Das hatte er keine Sekunde lang erwogen. Er hatte sich nur gefragt, wie es weitergehen sollte. Ob er nach Hause fahren sollte, um in Ruhe alles abzuwarten. Wie er es immer getan hatte. Geduldig abwarten, nur dass das Warten dieses Mal damit enden würde, dass sie ihn holen kämen. Und wenn er alles hundert Mal leugnete, niemand würde ihm glauben. Auch ihm würde man nicht glauben. Auch ihn würde man nicht verstehen. Wie Victor.
    Oder sollte er nach Wolfheim zurückfahren? Versuchen, Victor doch noch zur Vernunft zu bringen? Vielleicht war es ja alles nicht so schlimm. Vielleicht war tatsächlich viel weniger vorgefallen, als er befürchtete.
    Langsam ging er zurück zu seinem Wagen. Er musste etwas tun. Er konnte nicht länger abwarten. Er musste Victor dazu bringen, dass er sich in Behandlung begab. Und er musste sehen, wie es um die Kinder stand. Er durfte sie nicht ihrem Schicksal überlassen. Nicht mehr.
    So sprach Rex sich selbst Mut zu, als er das Auto anließ und losfuhr, langsam die Route des Trois Bornes hinab, bis ganz ins Tal hinab, unter der Brücke hindurch, ins Dorf hinein, bis vor das Haus.
    Das Tor stand noch offen, ebenso die Haustür. Von Victor keine Spur. Rex stieg aus und sah sich um. Der Dorfplatz war wie leergefegt. Die Bürgersteige waren ebenfalls menschenleer. Keine Seele war auf der Straße. Er sah auf die Uhr. Es war Viertel vor zwölf.
    Noch immer war es drückend warm. Zwar waren Wolken heraufgezogen, die nun die Sonne verdeckten, aber dadurch war es nur noch drückender geworden.
    Bald werden Sie wiederkommen mit einer großen Schar, und dann werden Sie mich verraten.
    Er war wiedergekommen. Damit hatte Victor Recht behalten. Aber er war alleine. Und er war nicht gekommen, um ihn zu verraten, sondern um ihm zu helfen.
    Behutsam lief er über den Pfad zur Haustür und ging hinein. Es stank. Es stank furchtbar. Der Geruch verschlug ihm den Atem. Er hielt sich die Hand vor Mund und Nase und sah sich um. Der Flur war leer. Eine der Türen stand auf, die des Sprechzimmers.
    Außer dem Gestank waren auch überall Fliegen, wo er auch hinsah. Blaue Fleischfliegen. Irgendwo faulte etwas vor sich hin. Darauf, da hinein legten die Fliegen ihre Eier. Damit die Larven, wenn sie schlüpften, sogleich Nahrung fanden.
    Dieser Gedanke schoss ihm durch den Kopf, während er das Sprechzimmer betrat. Auch dieses war leer. Und voller Fliegen. Hinter dem Schreibtisch stand wiederum eine Tür offen, als wäre eine Route vorgezeichnet. Vielleicht ein Hinterhalt.
    Er schlich vorsichtig auf die Tür zu. Mit einer Hand hielt er sich die Nase zu, mit der anderen verscheuchte er die vielen Brummfliegen, die tosend seinen Kopf umschwirrten. Kurz rechnete er noch damit, hinter der Tür Victor zu finden. Lebendig oder tot. Vielleicht wäre Letzteres das Beste.
    Aber in dem Raum war kein Victor. Beziehungsweise doch, sogar dreifach. V1. V2. V3. So stand es nacheinander auf dem ersten, zweiten und dritten Glasgefäß.
    Sie waren kaum noch als Kinder zu erkennen. Das sah er, nachdem er dichter herangetreten war. Als wären sie wieder zu Föten geworden. So mager. So klein. So kahl. So viel Kopf. Und dann die Haltung. Genau wie Föten in der Gebärmutter. Als hätte Victor sie erst in dieser Haltung erstarren lassen, bevor er sie in Formalin konserviert hatte.
    Der Schock wurde noch größer, als er die Daten auf den Etiketten entdeckte: 13. Mai 1989, 17. Mai 1989, 16. Mai 1989.
    Er kam knapp zu spät. Das wurde ihm nun bewusst, und auch, dass es seine Schuld war. Dass er hierfür verantwortlich war, mitverantwortlich. Dass er es hätte verhindern können.
    Erneut bekam er Atemnot. Aber gleichzeitig verspürte er das dringende Bedürfnis, die gläsernen Gefäße zu öffnen. Nicht um die Kinder zu erlösen. Nicht um ihnen Luft statt Wasser zu geben. Sondern um sie zu vernichten. Um Scham und Schande zu tilgen. Die Beweise zu beseitigen. Schnell. Er trat einen Schritt vor und streckte die Hände aus.
    Da sah er sie.
    Sie lag auf dem Boden, halb unter dem Tisch. Seine Bewegung hatte die Fliegen
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