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Nacht

Nacht

Titel: Nacht
Autoren: Elena Melodia
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    Kapitel 1
    E s herrscht Dunkelheit.
    Ich gehe, aber bewege mich nicht. Meine Beine sind bleischwer, in meinem Kopf hallen die regungslosen Schritte wider, hämmern unaufhörlich, während Kälte in mir hochkriecht. Ich zittere und kann mich nicht wärmen. Auch meine Arme sind gelähmt. Sie schmerzen, schmerzen so sehr wie nie zuvor, als würden sie herausgerissen.
    Ich versuche zu schreien und kriege kein Wort hervor, nur ein dünnes, heiseres Krächzen, wie von einem Blasinstrument, das zu lange unter Wasser gelegen hat.
    Wo bin ich?
    Ich höre Geräusche, zuerst aus der Ferne, dann immer näher kommend. Ich zittere noch immer, jetzt auch vor Angst.
    Ich öffne die Augen und sehe nichts. Nur Dunkelheit. Habe ich sie wirklich geöffnet? Das habe ich, am Boden zu meiner Rechten ist ein schmaler Streifen Licht erkennbar. Ich höre Stimmen, die mir vertraut erscheinen. Dort, hinter der Tür.
    Ruckartig fahre ich hoch und stelle fest, dass ich mich bewegen kann – endlich.
    Ich bin in meinem Bett.
    Ich habe nur geschlafen.
    Langsam atme ich ein und aus, warte auf einen klaren Gedanken. Es ist wieder passiert. Eine Grenze zwischen Schlafen und Wachen existiert nicht mehr. Die Alpträume sind Realität, und die Realität ist die Hölle. Der Traum wird zur Wirklichkeit. Und auch der Traum ist die Hölle.
    Das ist häufig so seit dem Tag meines Unfalls.
    Ich taste nach der Lampe auf dem Nachttisch, diesem scheußlichen rosa Ding mit einem Schirm aus künstlichen Federn.
    Das Erste, was ich sehe, ist das violette Heft, das runtergefallen ist, als ich so plötzlich aufgefahren bin. Ich habe es gestern gekauft. Es lag im Schaufenster einer Papierwarenhandlung in der Innenstadt, in einem kleinen, altmodischen Geschäft, das mir vorher noch nie aufgefallen war. Wahrscheinlich lag es an der Farbe, Violett, ich fand es sofort wunderschön. Ich weiß noch nicht, ob ich etwas hineinschreiben werde, und auch nicht, was. Aber ich bin froh, dass ich es gekauft habe. Ich musste es einfach haben, basta.
    Jetzt liegt das Heft auf dem Fußboden, zwischen den Schulbüchern, die auf ermüdende Weise die immer gleichen überflüssigen Geschichten wiederholen. Ich höre das Trommeln ihrer Worte, ihrer Seitenzahlen. Ich sehe ihre grässlichen Illustrationen, die Markierungen meines Stifts, der immer gleiche Zeilen unterstreicht. Ich denke an die Schule.
    Ich mache die Augen zu und wieder auf.
    Hölle.
    Ich werfe einen Blick auf meinen Wecker, dieses alte und laute Ding. Es ist noch früh. Erst sechs Uhr.
    Hölle.
    Noch mehr Geräusche. Zu viele Geräusche. Ich mache die Augen zu und wieder auf.
    Es ist Dienstag.
    Die Geräusche kommen von Jenna, meiner Mutter, die Frühschicht im Krankenhaus hat. Sie ist Krankenschwester. Ich weiß nicht, wie sie das aushält. Ihren Job würde ich nicht machen wollen. Sich den ganzen Tag um kranke Leute kümmern, sie waschen, sie pflegen. Wozu? Um womöglich eines Tages auch in so einem Bett zu enden und auf eine Krankenschwester wie sie zu hoffen, die einen wäscht und sich um einen kümmert. Während es einem schlechtgeht. Während man stirbt. Nein danke, das ist nichts für mich.
    Ich bleibe unbeweglich unter der Decke liegen und warte darauf, dass das Tageslicht durch die Vorhänge dringt. Dann stehe ich auf und gehe zum Fenster, diesem riesigen Fenster, das so überflüssig ist wie eine Klimaanlage in Lappland, weil man nichts als Grau sieht, immer nur Grau. Graue Häuser, graue Straßen, sogar ein grauer Himmel. Ich sehe zu, wie in der Ferne, hinter diesem schlammigen Fluss, die Flugzeuge von den Startbahnen des Flughafens abheben. Wie gern möchte ich von hier weg.
    Ich schaue in den Himmel, ohne ihn wirklich zu sehen.
    Es regnet, heute wie jeden Tag.
    Tack, tack, tack. Der Regen klopft gegen die Fensterscheibe, als würde er auf sich aufmerksam machen wollen. Ich gehe über den leeren Flur ins Bad. Plötzlich fällt die Finsternis meines Alptraums erneut über mich her und drängt sich in meine Gedanken. Es war ein Traum, nur ein Traum, aber ganz egal, ich bin völlig fertig. Ich betrachte mich im Spiegel, und die Dunkelheit löst sich nach und nach auf. Ich bin schön, trotz allem.
    Ich stehe da und mustere mich.
    Manchmal geht mir die Frage durch den Kopf, wie mein Leben aussehen würde, wenn ich hässlich wäre, wenn ich nicht diese grünen Augen hätte, mit denen ich gern die Jungs fixiere, um sie in Verlegenheit zu bringen. Oder diese schwarzen, glatten Haare, die glänzen, dass eine
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