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Der Engelmacher

Der Engelmacher

Titel: Der Engelmacher
Autoren: Stefan Brijs
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überrascht an. Alle hatten sie sich darüber monatelang den Kopf zerbrochen, aber niemand hatte es gewagt, sich danach zu erkundigen.
    Doktor Hoppe war jedoch nicht aus dem Konzept gebracht, fast schien er die Frage erwartet zu haben. Er holte kurz Luft und sagte dann, nach einer kurzen Pause: »Sie haben keine Mutter. Nie eine gehabt.«
    Kurz schien das Josef Zimmermann zu verwirren, aber dann fasste er sich wieder und sagte, indem er sich zurücklehnte: »Es tut mir Leid, Herr Doktor, ich wusste nicht …«
    Plötzlich ließen die Babys sich doch noch vernehmen. Alle drei sperrten sie gleichzeitig die Münder auf und brachen in ein Geheul aus, das so einstimmig klang, als käme es aus einer einzigen Kehle. Es versetzte die Trommelfelle der Umstehenden ins Schwingen. Sogar der schwerhörige Weinstein hielt sich die Ohren zu. Auch den Doktor schien das Geheul nervös zu machen, aber er unternahm keinerlei Versuch, seine Kinder zu beruhigen. Hastig klappte er das Dach der Babytragetasche hoch und brachte den Plastikschutz wieder an. Dann hob er die drei Kinder hoch, wodurch das Geheul noch zuzunehmen schien, und manövrierte sie zwischen den Tischen und Stühlen hindurch zur Tür, die er nicht gleich aufbekam. Werner Bayer eilte ihm zu Hilfe und hielt sie so weit wie möglich auf, während er zum Abschied nervös mit dem Kopf nickte. Er sah dem Doktor nach, bis dieser die Straße überquert hatte. Dann schloss er die Tür wieder, drehte sich mit einem Ruck um und blickte wütend zu Josef Zimmermann hinüber.
    »Musste das jetzt sein?«, rief er. »Verdammt noch mal, er hat das Leben meines Sohnes gerettet!«

3
    Wer in den ersten Tagen nach dem Vorfall mit Georg Bayer noch gezögert hatte, Doktor Hoppe zu konsultieren, änderte seine Meinung, nachdem Pastor Kaisergruber sich wegen einer Magenschleimhautentzündung hatte behandeln lassen. Eigentlich war es weniger dieses schleichende Leiden gewesen, das den Geistlichen zum Doktor getrieben hatte, als vielmehr seine Neugier. Doch auch sein Gewissen hatte eine Rolle gespielt, denn es hatten sich in der Vergangenheit bestimmte Dinge ereignet, und er fragte sich, was dem Doktor davon wohl noch in Erinnerung geblieben war.
    »Sie sehen Ihrem Vater sehr ähnlich.«
    So hatte er angesetzt, nachdem der Doktor ihn ziemlich kühl und sachlich im früheren Sprechzimmer empfangen hatte, das noch voller Kartons stand und lediglich mit einem alten Schreibtisch und zwei Stühlen ausgestattet war.
    Victor Hoppe hatte lediglich mit einem Kopfnicken reagiert und sich erkundigt, welcher Art die Beschwerden genau seien.
    Kurz darauf hatte es der Priester erneut versucht: »Ihre Mutter war ein frommer und guter Christenmensch« – sie schon, war ihm auf der Zunge gelegen.
    Wieder nur dieses Kopfnicken. Aber diesmal hatte er auch ein Zögern beim anderen bemerkt. Das war doch schon mal was.
    Der Doktor hatte ihn gebeten, seine Soutane abzulegen. Das hatte er getan, auch wenn es ihm so vorgekommen war, als legte er damit ein Schutzschild gegen das Böse ab. In auffallender Weise hatte er deshalb während der Untersuchung ein paar Mal das silberne Kreuz berührt, das er an einer Kette um den Hals trug, in der Hoffnung, den Doktor dadurch irgendwie abzuschrecken.
    Scheinbar beiläufig hatte er dann gesagt: »Nächste Woche ist der Feiertag der Heiligen Rita. Dann pilgert das ganze Dorf wieder auf den Kalvarienberg in La Chapelle, zu den Klarissen.«
    Der Doktor hatte ihm in der Magengegend auf den Bauch gedrückt, genau an der Stelle, wo der Schmerz am schlimmsten war. Er hatte einen Schrei ausgestoßen und einen Fluch hinuntergeschluckt.
    »Hier sitzt es«, hatte Doktor Hoppe mit einem Nicken gesagt, »beim Übergang von der Speiseröhre zum Magen.« So war er dem gerade angeschnittenen Thema wiederum ausgewichen, aber Pastor Kaisergruber war sich sicher, dass seine Bemerkung dem Doktor ebenso weh getan hatte wie ihm selbst der Druck des Daumens auf den Bauch.
    Zur Behandlung seines Leidens hatte er einen selbst gemachten Sirup bekommen, und als er den Doktor dafür bezahlen wollte, hatte dieser den Kopf geschüttelt und gesagt: »Es ist meine Pflicht, Gutes zu tun. Es ziemt sich nicht, dafür Geld zu verlangen.«
    Von diesen Worten war der Priester kurz überrumpelt gewesen. Dann hatte er sich gefragt, ob der Doktor sie ironisch gemeint hatte. Fast schon automatisch hatte er geantwortet, das sei sehr nobel, und leicht verwirrt war er gegangen. Die Säure in seinem Magen hatte gebrannt wie
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