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Der Engelmacher

Der Engelmacher

Titel: Der Engelmacher
Autoren: Stefan Brijs
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die Engel selbst anzurufen. Wer erwartet hatte, dass sie verängstigt darauf reagieren würden, plötzlich im Mittelpunkt des Interesses zu stehen, nachdem sie monatelang eingesperrt gewesen waren, hatte sich getäuscht. Sie reagierten vielmehr überhaupt nicht. Vielleicht waren sie überwältigt von all den Eindrücken, jedenfalls gaben sie auch dann keinen Pieps von sich, wenn ihnen jemand eine Grimasse schnitt oder »ga-ga-ga« und »dibi-dibi-dibi« sagte.
    »Als ob sie unter Drogen stünden«, flüsterte René Moresnet.
    Nachdem fast alle bereits einen Blick in die Babytragetasche geworfen hatten, traten auch der lange Meekers und sein Vater vor. Der Junge fing sich prompt einen ordentlichen Rippenstoß ein. »Achtzehn Zentimeter, du Einfaltspinsel!«, zischte sein Vater ihm zur Erheiterung der Umstehenden zu. Um die Aufmerksamkeit abzulenken, wandte er sich schnell an den Doktor. »Können sie schon sprechen?«
    Hinter dem Tresen reagierte Maria Moresnet spöttisch: »Doch nicht mit neun Monaten!«
    Doktor Hoppe nickte und sagte trocken, als teile er einem Grippepatienten seine Diagnose mit: »Schon seit dem sechsten Monat.«
    »So früh schon, Herr Doktor?«, fragte Maria ungläubig.
    Der Doktor nickte wieder.
    »Französisch und Deutsch«, sagte er so ernst, dass es künstlich wirkte.
    Nun fing Maria an zu lachen: »Ach, Sie machen Witze.«
    Aber wieder lachte der Doktor nicht mit. Er schien sogar irgendwie beleidigt zu sein.
    »Ich muss gehen«, sagte er stattdessen plötzlich, trat zu der Babytragetasche und klappte das Dach hoch.
    »Möchten Sie nicht noch etwas trinken, Herr Doktor?«, versuchte es René Moresnet.
    Der Doktor schüttelte den Kopf, bereits damit beschäftigt, das Tuch am Kopfende der Tasche wieder zu spannen.
    »Herr Doktor?«, ließ sich plötzlich aus dem vorderen Bereich des Wirtshauses eine Stimme vernehmen, die bislang geschwiegen hatte. Es folgte ein Räuspern, und dann rief jemand erneut und diesmal lauter: »Herr Doktor, dürfte ich Ihre Söhne wohl auch einmal sehen?«
    Der Doktor sah verwundert auf und wandte den Kopf in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Ein Mann mit einem von Falten überzogenen Gesicht, dessen eines Auge geschlossen blieb, saß an einem Tisch am Fenster und hatte seine sehnige Hand halb erhoben.
    »Mein Name ist Josef Zimmermann, Herr Doktor.«
    Hier und dort erklang unterdrücktes Lachen. Mit seinem einen Auge blickte der alte Zimmermann streng in die Runde.
    »Können Sie sie nicht kurz hierher bringen?«, wandte er sich dann erneut an den Doktor. »Ich bin schlecht zu Fuß.«
    Mit einem Nicken deutete er auf den Wanderstock, der an der Lehne seines Stuhls hing.
    »Wenn Sie es wünschen, Herr Zimmermann«, sagte der Doktor.
    Es war wieder sehr still geworden im Wirtshaus, und mit gespannten Blicken verfolgte man, wie Doktor Hoppe nach den Riemen der Babytragetasche griff und sie in einer weit ausholenden Bewegung vom Tisch schwenkte. Er ging zu dem alten Zimmermann hinüber, beugte sich vor und stellte die Tasche direkt neben die mageren Beine des Greises.
    »Danke«, sagte Zimmermann, den Blick auf den gebeugten Rücken des Doktors gerichtet.
    Der Doktor klappte erneut das Dach herunter und richtete sich dann auf, während der alte Mann ihn mit seinem einen noch sehfähigen Auge eindringlich ansah. Die pechschwarze Pupille füllte beinahe die gesamte Iris aus. Sein anderes Auge war kaum mehr als ein horizontaler Streifen, umrandet von einer gelblichen Kruste.
    »Ich habe Ihren Vater und Ihre Mutter noch gekannt«, sagte Zimmermann.
    Kurz schien der Doktor in der Bewegung innezuhalten, ein Zögern, als habe er irgendwo einen Stich verspürt. Dann richtete er sich doch vollständig auf und versuchte, sich irgendeine Haltung zu geben. Erst verschränkte er die Arme vor der Brust, dann ließ er sie wieder sinken, und schließlich stemmte er die Hände in die Seiten.
    »Ihr Vater, das war noch ein guter Arzt«, fuhr der alte Mann fort. »Solche wie ihn gibt es heute gar nicht mehr.«
    Es lag etwas Infames in der Bemerkung, aber Doktor Hoppe reagierte nicht darauf. Er starrte wortlos seine Kinder an. Ein tiefer Seufzer entfuhr Josef Zimmermann, der nun seinen Stuhl zurückschob. Träge beugte er sich über das Kopfende der Tragetasche. »Soso, das sind sie also. Sie sehen Ihnen ähnlich.« Er unterbrach sich kurz und sagte dann: »Wo ist denn ihre Mutter, wenn ich fragen darf?«
    Hinter dem Rücken des Doktors sahen verschiedene Dorfbewohner einander
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