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Lob der Grenze - Kritik der politischen Unterscheidungskraft

Lob der Grenze - Kritik der politischen Unterscheidungskraft

Titel: Lob der Grenze - Kritik der politischen Unterscheidungskraft
Autoren: Paul-Zsolnay-Verlag
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    Vorwort
    Krínein : wie zu unterscheiden sei
     
     
    Vom deutschen Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel stammt die sinnige Bemerkung, dass man erst dann weiß, wann etwas begonnen hat, wenn es zu Ende ist. Die Menschen, die den Schwarzen Freitag des Jahres 1929 erlebten, wussten nicht, dass dies der Beginn eines der furchtbarsten Kapitel der neueren Geschichte war. Die Menschen, die im Jahre 2008 den Zusammenbruch traditionsreicher Banken und Automobilhersteller erlebten, wissen noch immer nicht, welche Seite im Buch der Geschichte damit aufgeschlagen wurde. Erst im Rückblick werden wir erkennen, ob überhaupt und in welcher Krise wir uns am Ende des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts befunden haben.
    Diese Überlegung ist keine unnötige geschichtsphilosophische Spekulation. Denn sie zeigt, dass die Einschätzung der Lage und, davon abhängig, die Frage, was zu tun sei, selbst in hohem Maße Spekulation sind. Wann ist eine Krise eine Krise? Wenn die Börsenkurse abstürzen? Wenn das Wirtschaftswachstum zurückgeht? Wenn die Inflation steigt? Wenn die Arbeitslosenrate zunimmt? Wenn in Umfragen Angst und Zorn bekundet werden? Oder ist eine Krise erst eine Krise, wenn es politische Radikalisierung, Massendemonstrationen, Barrikaden, Streiks, Plünderungen, brennende Stadtviertel gibt? Weil wir keine verlässlichen Indikatoren haben, um das Ausmaß und den Charakter der Krise festzustellen, haben wir auch keine wirklich plausiblen Theorien über die Ursachen dieser Krise. Insofern bietet die Krise tatsächlich jedem eine Chance: Jeder kann die Ursache dort sehen, wo es ihm gerade beliebt. Der unregulierte Finanzsektor, die Gier der Manager, die Gier der kleinen Anleger, die faulen Kredite der Amerikaner, der Kasinokapitalismus, eine falsche Industriepolitik, zu viel oder zu wenig Staat, zu viel oder zu wenig privat, das Versagen der Märkte oder der Eingriff in diese: Die Liste ließe sich fortsetzen und spiegelte doch nur die Interessen derjenigen wider, die sich mit der einen oder anderen Vermutung dazu äußern. Sollte diese Krise tatsächlich gravierende soziale und politische Folgen haben, wird man noch in Jahrzehnten darüber streiten, was nun die tieferen Ursachen und die eigentlichen Auslöser waren; sollte diese Krise nach einer kurzen Rezession wieder zu einer Erholung der Wirtschaft und zur Fortsetzung des Üblichen führen, wird sie nicht viel mehr als eine Fußnote für die Diskurse der Zukunft abgeben.
    Eine Krise, so legt es die Etymologie dieses Wortes nahe, ist eine Phase, in der sich die Dinge scheiden. Das griechische Verb krínein bedeutet trennen oder unterscheiden, die davon abgeleitete kritikē téchnē , die Kritik, bezeichnet die Kunst der Beurteilung, die auf der Fähigkeit beruht, zu unterscheiden und Unterschiede zu erkennen. Kritik und Krise stammen aus derselben sprachlichen Wurzel, und sie markieren Grenzen. Nur während wir in der Kritik Unterscheidungen vornehmen, werden wir in der Krise von Unterscheidungen getroffen. Krise ist vorab ein Synonym für Differenzerfahrungen. Es ändert sich etwas, und es steht zu erwarten, dass nachher nichts mehr so sein wird wie vorher.
    Was hat sich also so verändert, dass wir von einer Krise sprechen müssen? An welchen Kriterien lässt sich jene Grenze festlegen, die die Krise vom Normalzustand trennt? Wann sind jene kritischen Zustände erreicht, die etwas kippen lassen? Konjunkturzyklen und damit verbundene steigende oder sinkende Zahlen von Arbeitslosen, platzende Spekulationsblasen, das Auf und Ab an den Börsen, Insolvenzen und Neugründungen von Unternehmen, stagnierende oder sinkende Wachstumsraten: All das gehört zum Alltag des Kapitalismus. Früher sagte man gerne, dass der Kapitalismus prinzipiell krisenanfällig sei, ja geradezu von diesen krisenhaften Zyklen lebe. So gesehen wäre die Krise des Kapitalismus keine Krise, sondern seine Normalität. In den letzten Jahren haben wir uns aber gerne einreden lassen, dass es gelungen sei, dieser Krisenanfälligkeit Herr zu werden, und dass die Normalität des Kapitalismus nun ein ständiges Wachstum sei, von dem alle, die einen mehr und schneller, die anderen langsamer und weniger, profitierten. Kaum einer der renommierten Wirtschafts-, Trend- und Zukunftsforscher hatte deshalb auch diese Krise kommen sehen. Sie gehörte nicht mehr zum Bild unserer Welt. Es mangelte den modernen Auguren an Urteilskraft; anders formuliert: an Unterscheidungskraft. Man könnte also auch sagen: Was
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