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Der Engelmacher

Der Engelmacher

Titel: Der Engelmacher
Autoren: Stefan Brijs
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Babywippen saßen.
    Sie war erschrocken, obwohl sie natürlich vorgewarnt war durch die vielen Geschichten, die über die Kinder die Runde machten. Sie sahen eher aus wie Kinderzeichnungen als wie echte Kinder: Die Größenverhältnisse stimmten nicht. Die Köpfe waren im Verhältnis zu den Körpern zu groß, und dasselbe galt für die Augen im Verhältnis zum Kopfumfang. Das war ihr gleich aufgefallen.
    Dann hatte der Doktor ihr die Kinder anhand der verschiedenfarbigen Bänder vorgestellt, die sie jeweils ums Handgelenk trugen. Je länger sie die drei angesehen hatte, desto mehr war sie zu der Überzeugung gelangt, dass sie tatsächlich mit bloßem Auge nicht voneinander zu unterscheiden waren. Gleichzeitig hatte sie auch bemerkt, wie viel sie von ihrem Vater geerbt hatten: das Haar, die Haut, die Augen und leider auch die Hasenscharte, rechts oberhalb der Lippe, an derselben Stelle wie bei ihm.
    Und noch etwas anderes hatte sie in der kurzen Zeit, die sie in Gegenwart der Kinder verbracht hatte, bemerkt: Die Kinder sahen sie nie an. Auch darin waren sie ihrem Vater ähnlich. Schon bei der Untersuchung war ihr aufgefallen, dass er jeden Blickkontakt zu vermeiden suchte. Er starrte immer zu Boden, wohingegen seine Söhne sich vor allem auf die eigenen Hände konzentrierten, die sie ständig bewegten, so als befühlten sie unsichtbare Gegenstände.
    »Frau Maenhout kommt ab morgen auf euch aufpassen«, hatte sie ihn dann zu ihrer Überraschung verkünden hören.
    Sie wollte gerade protestieren, da hoben alle drei Kinder gleichzeitig die Köpfe und sahen sie aus ihren viel zu großen Augen an. Noch im selben Moment stand ihr Entschluss fest.
    »Um welche Zeit soll ich morgen hier sein?«, hatte sie gefragt.
    »Halb neun«, hatte er geantwortet.
    Unmittelbar darauf war sie gegangen, und erst, als sie schon wieder draußen vor der Tür stand, war ihr aufgefallen, dass sie sich gar nicht von den Kindern verabschiedet hatte.
     
    »Sind Sie bereit?«, fragte der Doktor, bevor er die Tür zur Küche öffnete.
    Sie wusste es eigentlich nicht. Sie hatte keine Ahnung, was er von ihr erwartete. Bislang hatten sie weder über die Kinder gesprochen, noch war von Geld die Rede gewesen. Selten war sie so impulsiv zu Werke gegangen.
    »Ich denke schon«, sagte sie und überraschte sich wiederum selbst mit dieser Antwort.
    Die Kinder saßen wie schon am Vortag in ihren Babywippen. Es schien, als hätten sie sich überhaupt nicht vom Platz bewegt. Und wieder konzentrierten sie ihre ganze Aufmerksamkeit auf die eigenen Hände, die sie nie still hielten. Ihre Bewegungen schienen sogar einem bestimmten Rhythmus zu folgen, wodurch ihnen etwas Mechanisches anhaftete.
    Vielleicht langweilen sie sich, dachte Frau Maenhout, der auch aufgefallen war, dass es nirgends Spielzeug oder Kuscheltiere gab.
    »Hallo zusammen«, sagte sie.
    Es erfolgte keine Reaktion.
    »Sie sind ein bisschen schüchtern«, sagte der Doktor.
    Sie musterte die drei aufmerksam. Sie waren zu mager, fand sie, und weil ihre Haut so dünn war, dass sie fast schon durchsichtig schien, wirkten die Kinder sehr zerbrechlich. Als wären sie aus Glas.
    »Sie können ruhig eins auf den Arm nehmen.«
    Sie nickte und trat zögerlich vor. Sie wusste nicht, welches der Kinder sie nun nehmen sollte. Keiner der drei Jungen versuchte, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, etwa indem er die Arme in die Luft streckte. Schließlich ging sie vor der mittleren Babyliege in die Hocke und löste den Verschluss. Dann hielt sie kurz den Atem an. Sie musste eine leichte Angst überwinden, so ähnlich wie vor etwa zehn Jahren, als sie in der Schule zum ersten Mal die stark verbrannte Hand von Julie Carpentier angefasst hatte, um ihr beizubringen, wie sie diese Hand beim Schreiben über das Blatt bewegen musste. Genau wie damals zählte sie auch jetzt in Gedanken bis drei und hob das Kind dann in einem Schwung aus der Liege. Der Junge war federleicht und zeigte so gut wie keine Reaktion, als sie ihn auf ihren Arm setzte.
    »Das ist Raphael«, sagte der Doktor und wies auf das blaue Armband.
    »Raphael«, wiederholte sie.
    Der Name gefiel ihr, aber in Kombination mit den beiden anderen wirkte er natürlich sonderbar. Sie fand es eine originelle, aber auch etwas bizarre Idee, die drei Kinder nach den Erzengeln zu benennen, und sie fragte sich, wer das wohl entschieden hatte. Der Vater oder die Mutter? Oder jemand Drittes?
    »Sie sind so ruhig, so brav«, bemerkte sie. Und zugleich überkam sie die
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