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Der Engelmacher

Der Engelmacher

Titel: Der Engelmacher
Autoren: Stefan Brijs
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Angst, dass möglicherweise mit ihnen etwas nicht stimmte. Dass sie vielleicht schwachsinnig waren.
    »Sie müssen sich erst noch an Sie gewöhnen«, sagte Doktor Hoppe. »Sie haben Schwierigkeiten damit, sich unbekannten Situationen anzupassen, das ist mir schon aufgefallen.«
    Diese Antwort beruhigte sie auch nicht gerade, und als könnte er ihre Gedanken lesen, fügte der Doktor hinzu: »Aber dafür können sie schon sprechen. Manchmal sagen sie plötzlich ein Wort, das sie irgendwo aufgeschnappt haben. Bei mir oder aus dem Radio oder so. Auf Französisch oder auf Deutsch. Sie sind sehr intelligent.«
    »Das müssen sie dann wohl sein.«
    Sie wusste nicht, wie viel sie davon glauben sollte. In ihren Berufsjahren war sie schon öfter Eltern begegnet, die wer weiß was für Dinge in ihrem Kind sahen. Es meint jede Frau, ihr Kind sei ein Pfau, hatte sie dann immer gedacht.
    »Ich versuche, ihre Sprachkenntnisse zu stimulieren«, fuhr der Doktor fort. »Bisher habe ich abwechselnd Deutsch und Französisch mit ihnen gesprochen. Aber jetzt können Sie ja Französisch sprechen und ich Deutsch, dann lernen sie schneller den Unterschied, nicht wahr?«
    Das kam ihr plausibel vor, und sie fand es auch keine besonders ungewöhnliche Idee. In dieser Gegend, in der drei Sprachgebiete ineinander übergingen, wuchsen die meisten Kinder mehrsprachig auf. Deutsch sprachen fast alle, und Französisch oder Niederländisch kamen dann dazu. Manche lernten sogar alle drei Sprachen gleichzeitig, je nachdem, auf welche Schule sie gingen und mit wem sie auf der Straße spielten.
    Bei ihr selbst war es nicht anders gewesen. Sie war in Gemmenich zur Welt gekommen, und ihre Eltern hatten Deutsch mit ihr gesprochen. Auf der Straße hatte sie Französisch gelernt, und später, auf der Oberschule, hatte sie Niederländisch-Unterricht bekommen. Plötzlich wurde ihr auch klar, warum der Doktor sich tags zuvor so für ihre Sprachkenntnisse interessiert hatte. Und er schien sich auch sonst alles gut gemerkt zu haben, zumindest fragte er nun noch einmal nach dem niederländischen Schlaflied.
    »Das mit den Blumen«, sagte er, »können Sie das den Kindern ab und zu vorsingen?«
    »Gern, wenn Sie möchten«, entgegnete sie, obwohl sie es ein sonderbares Ansinnen fand.
    Der Doktor sah auf seine Armbanduhr und sagte: »Kommen Sie, ich zeige Ihnen schnell noch das Haus. Gleich kommen die ersten Patienten.«
    Noch ehe sie etwas entgegnen konnte, hatte er sich umgedreht und war durch die Tür in den Gang verschwunden. Sie blieb etwas verdutzt zurück, schüttelte den Kopf und legte Raphael vorsichtig wieder in die Babyliege.
    »Ich bin gleich wieder da«, sagte sie auf Französisch, während sie sich zunehmend fragte, worauf sie sich da in Gottes Namen eingelassen hatte.
    Der Doktor wartete im Flur auf sie, vor der Tür gegenüber dem Sprechzimmer.
    »Die Kinder und ich schlafen vorläufig unten«, sagte er und ging in den Raum.
    Zögernd blieb sie in der Türöffnung stehen. Das Zimmer war ordentlich aufgeräumt. Mittig an der gegenüberliegenden Wand stand ein schmales Bett, das tadellos glatt bezogen war. Auf den Stühlen, die rechts und links am Kopfende standen, lagen weder Bücher noch Kleidungsstücke, und auch auf dem Fußboden waren keine Spielsachen oder sonstigen Gegenstände verstreut. An der anderen Wand standen nebeneinander drei Metallbetten auf Rädern, in jeweils ungefähr einem Meter Abstand voneinander. Auch diese Betten waren ordentlich gemacht, die schneeweißen Laken und Bezüge wiesen keine Falte auf. Am Fußende hingen Namensschilder. Michael schlief in dem rechten Bett, links davon lag Raphael und neben ihm Gabriel. Die Wände schienen erst kürzlich tapeziert worden zu sein, ansonsten waren sie kahl. Nirgends hingen irgendwelche Bilder, die sie durchaus erwartet hatte: ein Porträt seiner Frau, vielleicht ein Hochzeitsfoto seiner Eltern, zumindest aber ein Foto seiner Kinder, die er Martha Bollen zufolge doch ständig fotografierte. Das ganze Zimmer strahlte eine gewisse Anonymität aus. Es war ein unpersönlicher Raum, der durch das makellose Weiß der Decken und Laken an ein Krankenhauszimmer erinnerte.
    »Das Badezimmer ist oben«, sagte der Doktor, »aber weil es etwas mühsam ist, die Kinder jedes Mal die Treppe hinaufzutragen, wasche ich sie im Augenblick noch in einer Wanne in der Küche.«
    »Wie in alten Zeiten«, lachte sie.
    Der Doktor blieb ungerührt. Kein Sinn für Humor, dachte sie und hoffte zugleich, dass seine
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