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Der Engelmacher

Der Engelmacher

Titel: Der Engelmacher
Autoren: Stefan Brijs
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lief er auf das Tor zu und öffnete es. Er bedeutete Frau Maenhout, ihm zu folgen, und ließ das Zauntor für die im Laufe der nächsten zwei Stunden zu erwartenden Patienten einen Spalt breit offen stehen.
    Während Charlotte Maenhout dem Doktor ins Haus folgte, musste sie unwillkürlich wieder an das Gespräch vom Vortag denken. Sie war wegen ihres hohen Blutdrucks in die Praxis gekommen, und Doktor Hoppe hatte die Gelegenheit genutzt, sie gründlich zu untersuchen und ihr allerlei Fragen für die Patientenakte zu stellen, die er immer anlegte, wenn jemand zum ersten Mal kam. Er fragte nach früheren Beschwerden, nach eventuellen Operationen und nach Krankheiten oder sonstigen Belastungen in der Familie. Außerdem erkundigte er sich nach ihren Lebensgewohnheiten, wie sie sich ernährte und ob sie rauchte oder trank. Ihre Antworten hatten ihn zufriedengestellt; sie hatte allerdings verschwiegen, dass sie leidenschaftlich gern naschte. Als er fragte, ob sie verheiratet war, Kinder hatte – »Der Herr Doktor sucht bereits nach einer neuen Frau«, hatte Odette Surmont ihren Freundinnen erzählt, nachdem ihr bei der ersten Untersuchung dieselben Fragen gestellt worden waren –, hatte sie lachend erwidert, vor vierzig Jahren habe man von Lehrerinnen an einer Nonnenschule noch erwartet, dass sie alleine ein kleines Zimmer bewohnten und ledig blieben. Später sei sie dann zu alt und vor allem zu weise gewesen, um sich noch einen Mann zu suchen. Den Witz hatte er offensichtlich nicht verstanden, zumindest war er nicht darauf eingegangen und hatte sich lediglich eine Notiz gemacht. Aber so wusste er zumindest, dass er sich irgendwelche Avancen von vornherein sparen konnte, hatte sie noch gedacht. Von seinem Äußeren her fand sie ihn alles andere als anziehend, ja sie verspürte sogar einen gewissen Widerwillen gegen ihn. Schon bei der ersten Begegnung hatte sie festgestellt, dass Martha Bollen nicht übertrieben hatte: Als Gott die Schönheit unter den Menschen verteilte, stand der Doktor in der letzten Reihe, hatte sie gesagt. Überall, auf dem Kopf, den Armen und den Handrücken, hatte sein Haar die grelle Farbe junger Mohrrüben. Der Bart war etwas dunkler und sah an Kinn und Kiefer aus wie ein Gewirr verrosteten Stacheldrahts, während es auf den Wangen und unter dem Mund in dünnen Büscheln wuchs. Weil die Haut dort, wo sich die Narbe von der Operation seiner Hasenscharte befand, ganz glatt war, sah es aus, als hätte jemand grob mit dem Rasiermesser hantiert und ein Stück aus seinem Schnurrbart herausgeschnitten. Hinzu kamen seine nasale, eintönige Stimme und sein Sprachfehler, durch den die Laute, die mit der Zunge am Gaumen hervorgebracht werden, so wie »t« und »l«, kaum zu hören waren. Lediglich an seiner schlichten Kleidung war nichts auszusetzen, braune Samthose und beigefarbenes Hemd. Aber das reichte nicht, um Frau Maenhout zu beruhigen – obwohl der Doktor genau das durchaus versucht hatte. Während der Untersuchung hatte er immer erklärt, was er als Nächstes machen würde, und zwischendurch hatte er in einer direkten, aber unaufdringlichen Weise alle möglichen Fragen gestellt. Etwa schien er aufrichtig an ihrer Kenntnis der französischen, deutschen und niederländischen Sprache interessiert zu sein. Ob sie zufällig ein niederländisches Schlaflied kenne mit den Zeilen »De bloempjes gingen slapen. Zij waren geurensmoe«. Er sprach mit Akzent, aber sie wusste, welches Lied er meinte. Sie kannte es sogar auf Deutsch: »Die Blümelein, sie schlafen schon längst im Mondenschein«.
    »Das heißt ›Het zandmannetje‹.«
    »Wie?«
    »›Het zandmannetje‹. Das Sandmännchen.« Hauptsache, ich soll es ihm jetzt nicht vorsingen, dachte sie, aber er verlangte nichts dergleichen. Er hatte weitere Fragen gestellt, unter anderem über ihren früheren Beruf. Wiederum hatte er sich sehr interessiert daran gezeigt, dass sie beinahe ihre ganze Laufbahn über in der ersten Klasse in Gemmenich unterrichtet und in den ersten Jahren zudem noch die Vorschulkinder unter ihrer Obhut gehabt hatte. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie noch nicht verstanden, worauf der Doktor hinauswollte, und als er sie ganz beiläufig gefragt hatte, ob sie bereit wäre, während seiner täglichen Sprechstunden auf seine drei kleinen Söhne aufzupassen, war sie so überrascht gewesen, dass sie keinen Ton herausgebracht hatte. Darüber war er hinweggegangen und hatte ihr stattdessen die Kinder selbst gezeigt, in der Küche, wo sie in ihren
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