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Der Engel Esmeralda

Der Engel Esmeralda

Titel: Der Engel Esmeralda
Autoren: Don DeLillo
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gräulichen Braun, dreieinhalb Stunden mindestens, eine Nachmittagsvorstellung am Times Square, ist jetzt weg, das Kino, und ich weiß den Titel des Films auch nicht mehr. Sollte mich eigentlich wahnsinnig machen, tut es aber nicht. Irgendwas ist irgendwo unterwegs mit meinem Gedächtnis passiert. Weil ich nicht gut schlafe, daran liegt es. Schlaf und Gedächtnis sind eng verflochten. Da wird ein Bus entführt, es gibt Tote, ich war der einzige Zuschauer im Kino. Es lag unterhalb von einem Megastore, wo man CD s, DVD s, Kopfhörer, Videokassetten und alles mögliche Audio-Equipment kaufen konnte, man geht in den Laden und dann die Treppe runter, und unten ist ein Kino, man holt sich eine Karte und geht rein. Früher wusste ich jedes Detail über sämtliche Filme, die ich je gesehen habe, aber das verblasst alles. Dreieinhalb Stunden, ist mir peinlich, das zu sagen. Minuten sollte ich sagen, die exakte Laufzeit in Minuten.«
    Seine Stimme klang merkwürdig. Er vernahm sie, als hörte er einem anderen beim Sprechen zu. Es war eine stetige Stimme ohne Intonation, ein flaches leises Leiern.
    »Das Foyer und das Kino waren beide leer. Kein Mensch in Sicht. Gab es einen Stand mit Erfrischungen? So viel weiß ich noch, an die Erfahrung selber kann ich mich erinnern, allein an diesem Ort einen Film in einer Sprache, die ich nicht verstehe, anzuschauen, mit Untertiteln, und das unterhalb der Straße, gespenstisch und grabkammernhaft, Passagieretot, Entführer tot, Fahrer überlebt, ein paar Kinder überleben. Früher wusste ich jeden Titel jedes ausländischen Films auf Englisch und in der Originalsprache. Aber mein Gedächtnis ist hinüber. Nur eines verändert sich nicht, für Sie nicht und für mich nicht. Wir planen den Tag vor, nicht wahr? Alles ist zusammengestellt, alles ist organisiert, wir geben ihm einen Sinn. Und sobald wir auf unseren Plätzen sitzen und der Hauptfilm beginnt, ist es, als wüssten wir das alles längst, x-mal bestätigt, nur können wir es eigentlich mit niemandem teilen. Stanley Kubrick ist in der Bronx aufgewachsen, aber ganz woanders, als wo Sie wohnen. Tony Curtis, in der Bronx, Bernard Schwartz. Ich stamme selbst ursprünglich aus Philadelphia. Ich habe Beruf: Reporter im Cinema Nineteen gesehen. Die alten Erinnerungen leben länger als die neuen, 19th Street und Chestnut. Im Foyer war ein riesiger fetter Mann, zur Dreizehn-Uhr-zehn-Vorstellung, er hatte Schuhe an, wo die Kappen weggeschnitten waren, und dann keine Socken. Ich glaube, niemand hat auf seine Zehen geschaut. Das wollte keiner. Dann kam ich nach New York, und der Lampenschirm in meinem Zimmer ist verbrannt. Aus heiterem Himmel in Flammen. Keine Ahnung, wie ich das Feuer gelöscht habe. Ein nasses Handtuch auf den brennenden Schirm? Keine Ahnung. Schlaf und Gedächtnis, eng verflochten. Aber was ich zu Anfang sagen wollte, der japanische Film, da bin ich hinterher auf die Herrentoilette gegangen, und die Wasserhähne haben nicht funktioniert. Es gab kein Wasser, ich konnte mir die Hände nicht waschen. So bin ich ja überhaupt auf das Thema gekommen. Die Wasserhähne in der Herrentoilette dort und die Wasserhähne in der Herrentoilette hier. Aber da passte es, es war irreal wie alles andere. Keine Leute, leerer Erfrischungsstand,perfekt saubere Toilette, kein fließend Wasser. Deshalb bin ich hier reingekommen, zum Händewaschen«, sagte er.
    Die Tür hinter ihm ging auf. Er drehte sich nicht danach um, wer da war. Irgendjemand stand da und sah zu, ein Zeuge dessen, was gerade passierte, was immer es war. Ein Mann auf der Damentoilette, mehr brauchte der Zeuge nicht zu sehen, ein Mann, der bei der Waschbeckenreihe stand, und eine Frau an der hinteren Wand. War die Frau an der hinteren Wand, weil der Mann sie bedrohte? Hatte der Mann vor, sich der Frau zu nähern und sie gegen die harten Kacheln zu drängen, in dem gleißend hellen Licht? Der Zeuge war bestimmt auch eine Frau, dachte er. Da brauchte er sich gar nicht umzudrehen. Was würde der Mann mit ihnen machen, der Zeugin und der Hungerleiderin ? Das war kein Gedanke, sondern ein Verschwimmen verschiedener Bilder, aber es war auch ein Gedanke, und fast schloss er die Augen, um ihn genauer zu betrachten.
    Dann war sie weg von der Wand. Sie machte zwei zögernde Schritte auf ihn zu, schnappte ihre Umhängetasche vom Boden und schob sich rasch an den Kabinen und an ihm vorbei, um ihn herum. Sie waren weg, beide Frauen, und Leo hatte das Gefühl, ihm bliebe nur eine verzweifelte
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