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Der Engel Esmeralda

Der Engel Esmeralda

Titel: Der Engel Esmeralda
Autoren: Don DeLillo
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Telefonrechnung, das Leck, die Fäulnis, alles, was man erledigen muss, die ganze Zeit, bevor sie einen tot in Omas Morgenmantel auffinden. Leo ging nicht zum Arzt, aber sie ging zum Arzt, weil er es nicht tat. Sie befolgte Vorschriften, weil er da war, den Boden wischte und den Müll nach draußen brachte. Er war keine stark gespannte Sprungfeder, er war sicher. In dieser kauernden Gestalt lauerte keine Explosion.
    Jahre später können sich die Menschen nicht erinnern, warum sie geheiratet haben. Leo konnte sich nicht erinnern, warum sie sich hatten scheiden lassen. Es hatte etwas mit Florys Weltsicht zu tun gehabt. Sie verließ damals die Nachbarschaftsinitiative, die Schauspieltruppe des Viertels, die Obdachlosenhilfe. Dann hörte sie auf zu wählen, Fleisch zu essen und verheiratet zu sein. Sie widmete ihren Stabilisierungsübungen mehr Zeit, trainierte schwierige Körperhaltungen, drapierte sich über einen Stuhl, rollte sich am Boden zu einer dichten Masse zusammen, einer großen Pille, lange Zeit reglos und anscheinend unerreichbar für irgendetwas außerhalb ihrer Bauchmuskeln und Wirbel. In Leos Augen schien sie von ihrer Umgebung nachgerade verschluckt zu werden,sie stand kurz davor, außer Sicht zu schmelzen, sich aufzulösen.
    Er beobachtete sie und dachte an etwas, das er vor Jahren in seinem Philosophieseminar gehört oder gelesen hatte.
    Jegliche menschliche Existenz ist eine optische Täuschung .
    Er versuchte, sich an den Kontext des Satzes zu erinnern. Ging es dabei um den Kosmos und unseren abgelegenen, flüchtigen Platz als Erdlinge darin? Oder war es etwas viel Intimeres, Menschen in Räumen, was wir sehen, was wir übersehen, wie wir durch die anderen hindurchgehen, Jahr für Jahr, Sekunde für Sekunde?
    Was sie zueinander sagten, habe keine Bedeutung mehr, behauptete sie, und ihr Sex auch nicht.
    Aber sie brauchten das, hier bei dem anderen zu sein, und er band sich die Schuhe fertig zu, stand auf, drehte sich um und zog die Sonnenblende hoch. Die Leiste schaute ein wenig aus dem Saum hervor, und er überlegte, ob er sie zurückschieben oder vorläufig so lassen sollte. Er verharrte einen Moment lang, fast ohne den Verkehrslärm auf der Straße wahrzunehmen.
    Hier verbrachte er einen Teil fast jeden Tages, Durchschnittspassagier, stehender Mann, in der U-Bahn, Rücken zur Tür. Er und andere, Leben im Pausenmodus, entleerte Gesichter, sie genauso, am Ende des Waggons sitzend. Er musste sie nicht direkt anschauen. Sie war da, mit gesenktem Kopf, zusammengepressten Knien, Oberkörper zur Trennwand gedreht.
    Dies war die Mittagsflaute zwischen den atemlosen, scharfen Kanten der Rushhour morgens und abends, aber sie saß da, als wäre sie von anderen eingekeilt, und er dachte, sie sei vielleichtnoch dabei, sich an die U-Bahn zu gewöhnen. Er dachte einiges. Er dachte, sie sei ein Mensch, der in sich verschlossen lebte, distanziert, ausweichend, was auch immer. Ihr Blick ging nach unten und weg, ins Nichts. Er sichtete die Reklameflächen über den Fenstern, las die spanische Version immer wieder. Sie hatte keine Freunde, eine Freundin. So beschloss er sie vorläufig zu definieren, im Frühstadium.
    Der Zug fuhr in einen Bahnhof ein, Forty-second Street, Port Authority, und er hielt sich abseits der Tür und wartete. Sie bewegte sich nicht, rührte sich nicht, und er stellte sich einen überfüllten Waggon vor, beide standen sie, sein Körper war gegen ihren gepresst, gerammt. In welche Richtung schaut sie? Weg von ihm, sie stehen Rücken an Vorderseite, die Körper gesteuert von den Kurven und unterschiedlichen Geschwindigkeiten, der Zug rast jetzt durch die Bahnhöfe, ein unfahrplanmäßiger Express.
    Er musste mal eine Zeit lang aufhören mit dem Nachdenken. Galt das nicht eigentlich für jeden? Jeden hier, der mit abgewandtem Blick über jeden anderen nachdachte, unmöglich zu sagen, in welcher Weise, lauter Gegenströme aus Gefühlen, Wünschen, trüben Fantasien von einer Sekunde zur nächsten.
    Es gab ein Wort, das er auf sie anwenden wollte. Ein medizinischer oder psychologischer Begriff, und es brauchte lange, bis es ihm einfiel, anorektisch , eines jener Wörter, das seine Bedeutung mit großem Nachdruck transportiert. Aber es war zu extrem für sie. So dünn war sie nicht, hager war sie nicht, sie war nicht einmal jung genug, um eine zu sein, eine Magersüchtige. Wusste er überhaupt, warum er das machte, all das hier, von dem Augenblick an, als er beschlossen hatte, den falschen Zug zu
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