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Der Engel Esmeralda

Der Engel Esmeralda

Titel: Der Engel Esmeralda
Autoren: Don DeLillo
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nehmen, ihren Zug? Es gab nichts zu wissen.Es war eine Minutensache, mal schauen, wie’s weitergeht.
    Bald folgte er ihr auf der Straße und aus der Hitze und dem Lärm dieses Broadway-Abschnitts in das kühle Säulenfoyer eines Multiplex-Kinos. Sie ging an den Ticketautomaten vorbei auf den Schalter am äußersten Ende des Foyers zu. Überall Poster, ein paar verstreute Leute. Sie betrat die Rolltreppe, und ihm war klar, jetzt durfte er sie einfach nicht aus den Augen verlieren. Er fuhr hoch zu dem hohen Hollywood-Wandgemälde und betrat den Teppich auf der ersten Etage. Ein Mann auf einem Sofa las ein Buch. Sie ging an den Videospielkonsolen vorbei und reichte der Kartenabreißerin vor den Kinosälen ihr Ticket.
    All diese Elemente, anscheinend verbunden zwischen hier und dort, Schritt für Schritt, aber ohne jegliche Vorstellung von einem sinnvollen Ziel – es gab nur den wechselhaften Rhythmus seiner Bedürfnisse.
    Er stand bei der Kartenabreißerin, von wo er sehen konnte, dass die Frau Kino 6 betrat. Er kehrte ins Foyer zurück und verlangte an der Kasse ein Ticket für den Film, der in Kino 6 lief, was immer es war. Der Kartenverkäufer verzog keine Miene, die Maschine spuckte die Karte aus, und er ging an dem Sicherheitsmann vorbei, dessen Ungerührtheit vermutlich Gewohnheit war, zur Rolltreppe. Als er wieder in der ersten Etage stand, reichte er die Karte der uniformierten Frau, ging an dem langen Snack-Tresen entlang und bog ab in Kino 6. Zwei Dutzend Köpfe im Dunkeln, grob geschätzt. Er suchte die Reihen ab und entdeckte sie am Ende der fünften Reihe.
    Er empfand keine Befriedigung darüber, dass er ihr vom Ende eines Films zum Anfang eines anderen nachgestellt hatte.Er spürte nur, dass ein Erfordernis erfüllt worden und eine unbestimmte Anspannung jetzt abgeflaut war. Auf halbem Weg durch den Seitengang beschloss er, sich direkt hinter sie zu setzen. Der Impuls überraschte ihn selbst, und er schlüpfte zögernd auf den Sitz; an die himmelschreiende Tatsache, dass er hier war, musste er sich noch gewöhnen. Dann wurde die Leinwand hell, und die Filmvorschau überfiel sie alle, wie Foltervarianten aus dem Labor, mit schnellen Bildern und hohen Stimmlagen.
    Ihre Körper waren in einer Flucht, Augen in einer Flucht, seine und ihre. Aber der Film war ihrer, ihr Streifen, ihr Kino, und er war auf die Verwirrung nicht vorbereitet. Der Film wirkte wie eine Fehlgeburt. Er konnte nicht aufnehmen, was sich abspielte. Er saß mit gespreizten Beinen da, die Knie gegen den Vordersitz gepresst. Er atmete ihr praktisch in den Nacken, und diese Nähe verhalf ihm dazu, sich an etwas heranzuarbeiten, das ihm bislang nicht klar gewesen war. Sie war eine alleinstehende Frau. Das musste einfach so sein. Sie wohnt allein, in einem Zimmer. Genau wie er, diese Jahre gewannen in seiner Erinnerung immer noch an Kraft, und die Entscheidung, die er irgendwann für dieses tatsächliche Leben getroffen hatte, herausgekratzt, herausgequetscht, war zuerst in seinem Zimmer in Gestalt einer Vision entstanden. Sie schaut auf verzogene Dielenbretter hinunter. Es gibt keine Badewanne, nur eine Dusche mit blechernen Seitenwänden, die klappern, wenn man sich anlehnt. Sie vergisst zu duschen, vergisst zu essen. Sie liegt mit offenen Augen im Bett und spielt Szenen aus den Filmen des Tages wieder durch, Aufnahme für Aufnahme. Die Fähigkeit dazu besitzt sie. Es ist natürlich, es ist angeboren. Die Schauspieler sind ihr egal, nur die Figuren zählen. Die sprechen undschauen traurig aus dem Fenster und sterben unnatürliche Tode.
    Er löste den Blick von der Leinwand. Ihren Kopf und ihre Schultern, das schaute er sich an, eine Frau, die den Kontakt mit anderen meidet, manchmal in ihrem Zimmer sitzt und die Wand anstarrt. Er hält sie für eine wahrhaftige Seele, ohne zu wissen, was das genau bedeutet. Ist er sicher, dass sie nicht bei ihren Eltern lebt? Kommt sie allein zurecht? Bestimmte Filme sieht sie viele Male, anders als er. Sie geht auf die Jagd nach mythischen Filmen, die einmal alle zehn Jahre gezeigt werden. Leo sah solche Filme nur, wenn er sie vor die Nase bekam. Sie widmet ihre Kraft dem Auffinden und Sehen der verborgenen Meisterwerke, der beschädigten Kopien, der fehlenden Aufnahmen, Spieldauer elf Stunden, zwölf Stunden, keiner scheint das genau zu wissen, eine privilegierte Handlung, ein Geschenk – man reist dafür nach London, Lissabon, Prag oder vielleicht auch nur Brooklyn, man sitzt in einem überfüllten Raum
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