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Der Engel Esmeralda

Der Engel Esmeralda

Titel: Der Engel Esmeralda
Autoren: Don DeLillo
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gefleckten Einbänden, marmoriertenEinbänden. Das waren seine Notizen, Jahre und Kilometer hingekritzelter Zeugenschaft, die er früher über jeden gesehenen Kinofilm zusammengetragen hatte. Name des Kinos, Titel des Films, Anfangszeit, Dauer, beiläufige Gedanken über den Plot und die Hauptdarsteller, einzelne Szenen und was ihm sonst noch aufgefallen war – geschwätzige Teenager in der Nähe und was er zu ihnen gesagt hatte, damit sie still waren, oder weiße Untertitel, die im weißen Hintergrund verschwanden, sodass er mitten in einem hitzigen Streit auf Koreanisch oder Farsi den Faden verlor.
    Wenn er mit ihr im Bett lag, dachte er manchmal blitzartig an Avner, als eine dunkle, verhüllte, die Form wechselnde Gestalt, eine unstete Präsenz, die den Raum heimsuchte.
    Flory boxte ihn gern in den Bauch, aus Spaß. Er versuchte zu begreifen, was daran so witzig war. Früher war er oft spät nach Hause gekommen und hatte sie angetroffen, wie sie im Schlafanzug Kickboxen übte. Das gehörte zu einem Programm aus Diät, stilisierten Bewegungen und langwierigen Meditationen, bei denen ihr Körper rücklings auf dem Boden lag, ein Geschirrtuch über den Augen. Sie machte Sommertheater, war wochenlang weg, und manchmal stumpften seine Sinne ab, dann wusste er kaum noch, dass er allein in der Wohnung war.
    Da war sein Gesicht im Spiegel, das allmählich asymmetrisch wurde, die Züge befanden sich nicht mehr auf derselben Achse, die Augenbrauen nicht auf Linie, die Kinnbacken schief, der Mund leicht schräg.
    Wann war es dazu gekommen? Was kommt als Nächstes?
    Sie lebten von fast nichts, von seinen geschrumpften Ersparnissen und ihren gelegentlichen Arbeitsschüben. Sie lebten von Gewohnheiten, mit langen, raumgreifenden Phasen desSchweigens, das nie angespannt oder betreten war. Andere Male tigerte sie beim genauen Lesen eines Drehbuchs auf und ab, probierte verschiedene Stimmen aus, und er hörte kommentarlos zu. Sie schnitt ihm regelmäßig die Haare, dann hörte sie damit auf.
    Wenn sie etwas vergaß, das sie ihm mitteilen wollte, ging sie an die Stelle, wo ihr der Gedanke gekommen war, Küche, Bad, Schlafzimmer, und wartete darauf, dass es ihr wieder einfiel.
    Auf den Eiswürfelschalen im Kühlschrank lag eine Flasche polnischer Wodka. Den konnte er drei Monate lang ignorieren und ihn dann eines Mitternachts in kleinen Schlucken methodisch aus einem Wasserglas trinken, bis er eine Stunde später auf seinem Klappbett ausgestreckt lag, die Welt ringsherum komplett abgeschaltet, bis auf einen tödlich pochenden Schmerz in seinem Vorderhirn.
    Da waren die Verkehrsmeldungen, der Klang von Florys Stimme, hochdruckverdichtet zu fünfundzwanzig Sekunden Stauwarnungen, Fahrspursperrungen, Leitplanken-Notreparaturen. Er hockte eingesackt vorm Radio und horchte auf Hinweise, dass die ganze Welt vor dem Zusammenbruch stand, wenn von einem Fahrzeug berichtet wurde, das sich auf dem Gowanus-Highway stadteinwärts überschlagen hatte. Diese Meldungen waren wie jiddischer Slang für die Feststellung, dass alles schiefgegangen war, umformuliert in Hochgeschwindigkeitsdiktion und die kühle, beherrschte Art ihrer Präsentation.
    Da war die Tatsache, dass sie nie in einem Film aufgetreten war, nicht als Statistin und auch in keiner Massenszene, und er fragte sich, ob sie insgeheim ihm die Schuld daran gab.
    Da waren all die Dinge, mit denen sie lebten, banale Gegenstände,die seltsam damit aufgeladen waren, ihre Wirklichkeit zu gestalten, Gegenstände, die berührt, aber nicht gesehen wurden, oder durch die hindurchgeschaut wurde.
    Mit Ende zwanzig war er ein Jahr aufs College gegangen, er arbeitete damals abends im Hauptpostamt auf der Eighth Avenue, belegte einen Kurs in Philosophie, auf den er sich immer freute, Woche für Woche, Seite für Seite, und beutete selbst die Fußnoten der Texte aus. Doch dann wurde es schwerer, und er brach ab.
    Wenn unser Dasein nicht dazu dient, herauszufinden, was ein Ding ist, was ist es dann?
    Da war ihr BH , der am Türgriff des Wandschranks baumelte.
    Was, dachte er, ist es?
    Er verließ seinen Platz, während der Abspann lief, eine Maßnahme, zu der er nur griff, wenn der Tagesplan äußerst voll war. Heute war das nicht der Fall. Er trat hinaus auf die Avenue und stellte sich an den Bordstein. Er betrachtete das Kino und wartete. Ein vorbeikommender Mann schmierte sich Sonnenschutz auf die Lippen, was Leo dazu anregte, nach dem Stand der Sonne zu schauen.
    Es dauerte nicht lange, bis die
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