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Der Engel Esmeralda

Der Engel Esmeralda

Titel: Der Engel Esmeralda
Autoren: Don DeLillo
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junge Frau herauskam. Sie hatte ihre Jeans in die dunklen Stiefel hineingesteckt und sah im Tageslicht anders aus, weißer, dünner, er wusste es nicht genau. Sie hielt einen Augenblick inne, während die Passanten an ihr vorbeistreiften. Er fand, sie wirkte auch besorgt, und dann dachte er, das war keine Sorge, nur eine grundsätzliche Konzentration auf die wesentlichen Einzelheiten, die nächste Anfangszeit, den schnellsten Weg dorthin. Sie trug ein lockeres graues Hemd und eine Umhängetasche.
    Hinterihm hupten Taxis vorbei.
    Sie ging fort, lange braune Haare, lange gemächliche bewusste Schritte, Knackarsch in der verwaschenen Jeans. Er nahm an, dass sie den U-Bahn-Eingang ein Stück nördlich ansteuern würde. Er blieb noch länger an Ort und Stelle stehen, dann merkte er, dass er dieselbe Richtung einschlug, ihr nach. Ging er ihr nach? Brauchte er jemanden, der ihm sagte, was er tat? Musste er seine Position im Sonnensystem überprüfen, weil er einen Mann gesehen hatte, der sich Sonnenschutz auf die Lippen schmierte?
    Der nächste Film seines Tages lief am anderen Ende der Stadt, einmal diagonal durch, auf der 86. Straße der Eastside, aber er konnte hier den A-Train nehmen, wenn es die Situation erforderte, und dann per Bus den Park durchqueren. In seinen Kodex der täglichen Fortbewegung war die Überzeugung eingebaut, niemals Taxis zu nehmen. Ein Taxi kam ihm vor wie Mogeln, auch wenn er nicht so recht wusste, was das bedeutete. Doch er wusste, was Geld bedeutete, die taktile Tatsache, dass Bargeld seine Hand verließ – Scheine falten, Münzen reiben.
    Er fiel jetzt in einen Trab, griff schon nach seiner Monatskarte. Sie war immer noch in Sichtweite, gerade so, inmitten des Schwarms auf dem Bürgersteig. Er trug die Monatskarte in der Brusttasche, während sein Tagesplan auf einer Karteikarte in der anderen Brusttasche steckte, Kleingeld, Brieftasche, Wohnungsschlüssel, Taschentuch, all die banalen Gegenstände, aus denen sich seine lebendige Alltagsidentität zusammensetzte. Dann war noch sein Hunger zu beachten, Essen, um die triste Hülle zu stählen, und zwar bald. Er trug seine alte Seiko-Uhr mit dem ausgefransten Lederarmband.
    Erachtete genau auf Regen in Filmen. In ausländischen Filmen, die in Nord- oder Osteuropa spielten, schien manchmal Gott vom Himmel zu regnen oder der Tod.
    Manchmal stellte er sich auch vor, er wäre selber Ausländer, schliche gebückt und unrasiert an Häuserwänden entlang, obwohl er keine Ahnung hatte, warum ihm das ausländisch vorkam. Er konnte sich in einem anderen Leben sehen, in irgendeiner namenlosen Stadt in Weißrussland oder Rumänien. Die Rumänen machten beeindruckende Filme. Flory las Filmkritiken, manchmal auch laut. Ausländische Regisseure wurden oft Meister genannt, der taiwanesische Meister, der iranische Meister. Sie sagte, für den Meistertitel müsse man schon Ausländer sein. Er sah sich an Cafés in SchwarzWeiß-Städten vorbeigehen, an denen Trambahnen entlangrauschten und Frauen mit Lippenstift in hübschen Kleidern. Diese Visionen verblassten sekundenschnell, aber auf kuriose und ernsthafte Weise hatten sie die Dichte einer komprimierten Lebensspanne.
    Flory fand, er brauche sich kein alternatives Leben als Ausländer vorzustellen. Er führe doch schon ein alternatives Leben. Im wahren Leben, sagte sie, ist er Lehrer in einem der Stadtrandviertel, einer heruntergekommenen Gegend. An einem Spätnachmittag geht er mit seinen Kollegen in eine Bar dort, und sie erzählen sich ihr Leben, das sie unter anderen Umständen führen würden. Pseudoleben, Scherzleben, aber an den Grenzen der Plausibilität. Nach mehreren Drinks schlägt ein trüber Leo das verwegenste alternative Leben vor. Dieses nämlich, sein Leben, im Kino. Die anderen winken ab. Leo doch nicht, ausgerechnet der, sagen sie. Der Mann ist zu erdverbunden und pragmatisch, der prosaischste der ganzen Bande.
    Siebrachte die Geschichte mit in ihre gemeinsame Wohnung im zweiten Stock ohne Fahrstuhl, zu dem Anblick am anderen Ende der Wohnung, wie er auf seinem Klappbett saß und sich die Schuhe zuband. Deshalb seien sie immer noch zusammen, sagte sie. Sein schwerblütiges Wesen sei ihr Fels in der Brandung. Sie brauche nur das offen Sichtbare, diesen Mann mit seinem Körper, seiner nachlässigen Masse, seine Schwerkraft, die sie im Gleichgewicht halte.
    Sonst wäre sie windverweht, unverankert, würde nur sporadisch essen und schlafen und nichts erledigt kriegen. Die Miete, die
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