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Der Engel Esmeralda

Der Engel Esmeralda

Titel: Der Engel Esmeralda
Autoren: Don DeLillo
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und fühlt sich verwandelt.
    Okay, das verstand er. Sie tritt aus ihrem eigenen Schatten heraus. Sie ist ein karges Wesen, das nach einem Daseinsort sucht. Aber es gab etwas, das sie begreifen musste. Das hier ist das Alltagsleben, das ist der Job, Tag um Tag. Man hat den Kopf in die Zeitung gesteckt oder an ein Telefon gestöpselt, damit man die Anfangszeiten der Vorstellungen mit den geschätzten Fahrtzeiten übereinbringen kann. Man macht den Plan, hält die Stunden ein, hält sich an den Plan. Das ist unsere Arbeit, dachte er.
    Er schloss eine Zeit lang die Augen. Er versuchte, sie sich nackt vor einem Spiegel vorzustellen, ihren Körper im Profil. Sie wirkte zerbrechlich, unterernährt, wie sie sich da betrachteteund halb fragte, wer dieser Mensch wohl war. Er dachte über ihren Namen nach. Er brauchte einen Namen, mit dem er sie fassen, irgendetwas, woran er sie erkennen konnte. Als er die Augen aufschlug, stand auf der Leinwand ein Haus, allein auf einem Winterfeld. Er dachte an sie und dachte Die Hungerleiderin . Das war ihr Name.
    Der Tag in Philadelphia, der Premierentag, Apocalypse Now , vor über dreißig Jahren, die Neun-Uhr-zwanzig-Vorstellung am Vormittag im Goldman auf der 15th Street. Er war in der Stadt, weil sein Vater gerade gestorben war, und er war im Kino, weil er es nicht fertigbrachte wegzubleiben, traf um Punkt neun dort ein mit dem schlechten Gewissen eines Verbrechers, der Tod seines Vaters und das bevorstehende Begräbnis waren die Buchstützen für Brando im Dschungel. Sein Vater hatte einer Gruppe treuer Freunde einige Immobilien hinterlassen, aber das Kapital ging an Leo, ein ganzer Batzen Geld, Fleischverarbeitungsgeld, Gewerkschaftsführergeld, schwerer Trinker, Spieler, Witwer, ein Meister der Bestechung und anderer Annehmlichkeiten.
    Dann der Tag, Jahrzehnte später, als Brando starb. Die Nachricht kam im Radio. Marlon Brando tot, mit achtzig. Für Leo ergab das keinen Sinn. Brando mit achtzig. Brando tot, das ergab mehr Sinn als Brando mit achtzig. Der Kerl in dem T-Shirt oder dem Tank-Top war tot, der mit der Lederjacke, nicht der alte Mann mit den aufgedunsenen Backen und der heiseren Stimme. Später, im Supermarkt, vor der ersten Vorstellung des Tages, rechnete er damit, dass die Leute in den Kassenschlangen darüber redeten, aber sie hatten anderes im Kopf. Will ich das Olivenölspray oder das Rapsölspray? Cash oder Karte? Er stand da und dachte an seinen Vater.Zwei Tode, die für immer miteinander verbunden waren, und das Geld, das Vermächtnis seines Vaters, erlaubte ihm irgendwann, seine Stelle bei der Post aufzugeben und dieses Leben ganztags zu führen, ermutigt von Flory.
    Damals lernten sie sich gerade erst kennen. Er hatte schon damit begonnen, Notizbücher mit Fakten und Kommentaren und persönlichen Interpretationen zu füllen, das fand sie faszinierend. Stapel dieser mit seiner unleserlichen Handschrift vollgeschriebenen Schulhefte türmten sich schon, eine halbe Million Worte, eine Million Worte, Film um Film, Tag um Tag, zu einer Kulturchronik, die in hundert Jahren entdeckt werden würde, die exzentrische Geschichtsschreibung einer ganzen Ära durch einen Einzelnen. Er war ein ernsthafter Mann. Das liebe sie an Leo, sagte sie, in ihrer Unterwäsche am Boden sitzend und kiffend, eine schwarze Schwimmbrille um den Kopf. Der Mann sei von einer Leidenschaft gepackt, einer völligen Versenkung, die keine Kompromisse kenne, und die Notizbücher seien handfeste Beweise dafür, Gegenstände, die man mit den Händen festhalten könne, Wörter, die man zählen könne, die greifbare Wahrheit einer mönchischen Hingabe, und seine undeutliche Handschrift verstärke das Wundersame des Unterfangens nur, wie uralte Schriften in einer verlorenen Sprache.
    Dann hörte er auf.
    Filme jeder Art, von überallher, Landkarten aus den Bildern der ganzen Welt, und dann hörst du auf?
    Er habe aufgehört, sagte er, weil die Notizbücher zu dem Motiv seines Tuns geworden seien. Sein Tun sei doch, ins Kino zu gehen. Die Notizbücher seien im Begriff, die Filme zu ersetzen. Die Filme bräuchten aber die Filmnotizen nicht. Sie bräuchten nur seine Anwesenheit.
    Wardas der Zeitpunkt, als sie aufhörte, ihm die Haare zu schneiden? Er war sich nicht sicher.
    Von Anfang an hatte er gewusst, dass er einer Zukunft ohne Zahltage, Ferientage, Geburtstage entgegenging, ohne Vollmond, Neumond, Vollpension und sonst was, das an Nachrichten aus aller Welt erinnerte. Er wollte halt den Ur-Akt, pur und
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