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Der Engel Esmeralda

Der Engel Esmeralda

Titel: Der Engel Esmeralda
Autoren: Don DeLillo
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war, und zu begreifen, warum er das hier brauchte. Er spürte es in ihr, wusste, dass es da war, dasselbe Halbleben. Sie hatten kein anderes Ich. Sie hatten kein Pseudo-Ich, keinen Firnis. Sie konnten nur das eine eingebettete Ding sein, das sie waren, der Mienen beraubt, die anderen ganz leichtfallen. Ihre Mienen waren leer, ihre Seelen waren leer, und vielleicht waren sie deshalb hier: um in Sicherheit zu sein. Die Welt war da oben, eingerahmt, auf der Leinwand, geschnitten und korrigiert und dicht gebündelt, und sie waren da unten, wo sie hingehörten, in der isolierten Dunkelheit, und waren, was sie waren, in Sicherheit.
    Filme finden im Dunkeln statt. Das wirkte wie eine düstere Wahrheit, gerade eben drüber gestolpert.
    Er brauchte einen Moment, um zu erkennen, dass er in demselben Film saß wie am Vortag, in Downtown ganz untenim Battery Park. Er wusste nicht, wie er das finden sollte. Er beschloss, sich nicht dämlich vorzukommen. Was würde geschehen, wenn der Film vorbei war? Darüber sollte er sich lieber Gedanken machen.
    Er sah, wie der Film genauso zu Ende ging wie vor vierundzwanzig Stunden. Sie blieb auf ihrem Platz sitzen, während die Leute an ihr vorbeischlurften. Er tat es ihr nach, wartete darauf, dass sie sich rührte, volle fünfzehn Minuten lang. Er erkannte die Aussage wieder. Film vorbei, kein Bedürfnis zu gehen, nichts da draußen als die Hitze, die vom Pflaster aufsteigt. Hier gehörten sie hin, in eine leere Sitzreihe, keine falschen Entscheidungen. Wollte er sie besitzen oder sie nur einmal berühren, sie ein paar Worte sprechen hören? Eine Berührung könnte das Bedürfnis stillen. Der Ort roch nach Sitzpolstern, dem Staub warmer Körper.
    Die Toiletten befanden sich am Ende eines Korridors. Die Gänge leerten sich, als sie in diese Richtung ging. Er stand am Anfang des Korridors und dachte nach, versuchte nachzudenken. Nur auf den leeren Kopf konnte man sich verlassen. Vielleicht hatte er das Gefühl, Wache zu stehen, auf die anderen Frauen zu warten, falls es welche gab, darauf, dass sie von der Toilette zurückkamen. Er war sich nicht sicher, was er als Nächstes vorhatte, und dann ging er den Gang entlang und drückte die Tür auf. Sie stand an dem Waschbecken, das am weitesten von der Tür entfernt war, und spritzte sich Wasser ins Gesicht. Die Umhängetasche stand zu ihren Füßen. Sie sah hoch und erblickte ihn. Nichts geschah, keiner von beiden rührte sich. Er glitt in einen Zustand der neutralen Beobachtung. Keiner von beiden rührte sich , dachte er. Dann warf er einen Blick auf die Kabinenreihe, alle anscheinend leer, Türen unverriegelt. Dies war eine motivierte Handlung,krass und vielsagend, und sie wich zurück, an die hintere Wand.
    Es gab Lücken in der Stille, ein Gefühl von Stop-and-go. Sie sah an ihm vorbei. Sie hatte das Gesicht und die Augen von jemandem, der fern in der Zeit lebte, eine Frau auf einem Gemälde, wo die Vorhänge in lockeren Falten hängen. Er wollte, dass einer von ihnen etwas sagte.
    Er sagte: »Die Wasserhähne in der Herrentoilette funktionieren nicht.«
    Das wirkte unvollständig.
    »Ich bin hier reingekommen«, sagte er, »um mir die Hände zu waschen.«
    Er wusste nicht, was als Nächstes passieren würde. Das weiße Gleißen der Toilette war tödlich. Er spürte, wie ihm auf den Schultern und den Rücken hinab der Schweiß ausbrach. Auch wenn sie ihn nicht direkt ansah, so war er doch in ihrer Sichtachse. Was würde geschehen, wenn sie ihn ganz direkt anschaute, Auge in Auge? Ist dies der Kontakt, den sie fürchtet, der Blick, der die Handlung auslöst?
    Keiner von beiden rührte sich , dachte er.
    Er nickte ihr zu, absurd. Sie hatte immer noch ein nasses Gesicht und nasse Hände. Sie stand da, einen Arm gebeugt vor sich, aber es wirkte nicht defensiv. Sie wehrte nichts ab, schlug nichts aus. Sie hatte einfach mitten in der Bewegung angehalten, die andere Hand flach gegen die Wand gepresst.
    Er versuchte sich vorzustellen, wie er wohl auf sie wirkte, ein Mann von einiger Größe und einigen Jahren, aber wie sah er für einen x-Beliebigen aus? Er hatte keine Ahnung.
    Er spürte eine Art Beben im rechten Arm. Als ob der gleich zitternwürde. Er ballte die Faust, nur um zu sehen, ob es ging. Er musste sich bekannt machen, das stand jetzt an, ihr sagen, wer er war, das mussten sie beide hören.
    Er sagte: »Ich denke die ganze Zeit an einen japanischen Film, den ich vor ungefähr zehn Jahren gesehen habe. Er war in einem Sepiaton, einem
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