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Der Engel Esmeralda

Der Engel Esmeralda

Titel: Der Engel Esmeralda
Autoren: Don DeLillo
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frei von äußeren Sensationen.
    Kartenverkäufer oder Kartenabreißer sah er niemals an. Jemand gab ihm eine Karte, und er gab sie ab an jemand anders. Das blieb unverändert, beinah alles blieb unverändert. Doch jetzt schienen die Tage schon eine Stunde, nachdem sie begonnen hatten, zu Ende zu gehen. Es war immer das Ende des Tages. Die Tage trugen keine Namen, und das hätte egal sein sollen. Doch die Namenlosigkeit der Woche hatte etwas Beunruhigendes an sich, es gab kein Gefühl von elementarer Zeit, sondern von ausgehöhlter Zeit. Er ging gegen Mitternacht die Treppe hoch, und hier und jetzt, Nacht um Nacht, wurde ihm der Augenblick intensiv bewusst, wenn er sich dem zweiten Stock näherte, die Schritte verlangsamte, darauf bedacht, nicht Nachbars Köter, die bellende Rattenfresse, aufzuwecken. Ein weiteres Ende eines weiteren Tages. Es schien, als sei der vorige Tag eben erst zu Ende gegangen, genau an dieser Stelle auf der Treppe, mit demselben behutsamen Schritt, und er sah sich ganz genau, gestern wie heute, den Fuß in der Luft.
    Alles vergessen bis zur nächsten Mitternacht, wenn dasselbe Gefühl einsetzte, am selben Ort, nur einen Schritt vor dem Treppenabsatz.
    Zuerst kam der Bus quer durch die Stadt und dann die U-Bahn, Linie 6, Richtung Uptown. Er dachte, sie seien unterwegszu einem Kino auf der Upper East Side. Er dachte außerdem, es müsse noch ein anderes Wort geben als anorektisch, das ihm helfen könnte, sie deutlich zu sehen, ein Wort, das für bestimmte Einzelne ein erstrebenswertes Ziel darstellte, als wären sie geboren und großgezogen worden, um sich hineinzuschmiegen.
    Er beobachtete sie, einen halben Waggon weiter.
    Sie spricht fast nie. Wenn sie spricht, gibt es da ein Stottern, einen Akzent? Ein Akzent könnte interessant sein, irgendetwas Skandinavisches, aber er beschloss, dass er keinen wollte. Sie hat kein Telefon. Sie vergisst einzukaufen – Essen, Schuhe, Toilettenartikel – oder lehnt das Konzept schlicht ab. Sie hört Stimmen, sie hört Dialoge aus Filmen, die sie als Kind gesehen hat.
    Sie blieb auf ihrem Platz sitzen, als sie die 86th Street erreichten. Das machte ihn nervös, er zählte die Stationen jetzt mit. Als er das glatte Dutzend erreicht hatte, machte der Zug einen Sprung ans Tageslicht, und er erblickte plötzlich eine Szenerie aus Mietshäusern, Sozialwohnungen, zackigen Streifen Dachgraffiti und einem Fluss oder Fjord, den er nicht identifizieren konnte.
    Sie ist auch sprunghaft, selbstzerstörerisch womöglich. Manchmal wirft sie sich gegen die Wand. Ihm ging auf, wie sinnvoll sein Tun war, sie als jemanden zu definieren, der dieses Leben, ihrer beider Leben , an seine vorherbestimmte Grenze führte. Ihr stehen keine passenden Maßnahmen zur Verfügung. Sie ist rein, er ist es nicht. Vergisst sie ihren Namen? Kann sie sich den geringsten Hauch von Wohlbefinden überhaupt vorstellen?
    Er schaute nach den Straßennamen auf dem elektronischen Netzplan auf der gegenüberliegenden Wand, wo die Pünktchennacheinander wegblinkten, Whitlock, Elder, Morrison, und dann begriff er langsam, wo er war. Er war in der Bronx, das hieß, er hatte sich außerhalb der bekannten Grenzen gewagt. Sonnenlicht erfüllte den Waggon, und er fühlte sich ausgesetzt, seiner üblichen Deckung und der Schutzaura beraubt, die er unterhalb des Straßenniveaus immer empfand.
    Gegenüber hielt eine kleine braune Frau eine halb gerauchte, erloschene Zigarette in der Hand. Endlich auf dem Bahnsteig, folgte er der anderen, der Frau, der er folgte, hinunter auf Straßenniveau und eine breite Avenue voller Geschäfte und Ladenbüros entlang, ein Lebensmittelladen von Bangladeshis, ein China-Latino-Restaurant. Er hörte auf, Dinge zu bemerken, und sah ihr beim Gehen zu. Sie schien jeden Schritt bis ins körperliche Sein hineinzudenken. Sie überquerten eine Schnellstraße auf einer Fußgängerbrücke, und sie bog ab in eine Straße voller Reihenhäuser mit Alu-Vor-dächern. Er blieb stehen und wartete, bis sie eines der Häuser betreten hatte, dann war die Straße leer, bis auf ihn.
    Er ging langsam zurück zur U-Bahn-Station, ratlos, was er damit nun anfangen sollte. Stand es im Widerspruch zu allem, was er mittlerweile von ihr annahm? Diese Straße, diese Familienhäuser, die Hindernisse, die sie überwinden musste, um die meist in Manhattan gelegenen Kinos zu erreichen. In gewisser Weise wurde sie dadurch als Person nur anziehender. Es bestätigte ihre Entschlossenheit, die Tiefe ihrer
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