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Der Engel Esmeralda

Der Engel Esmeralda

Titel: Der Engel Esmeralda
Autoren: Don DeLillo
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Berufung.
    Sie wohnte hier, weil sie ja irgendwo wohnen musste. Sie kam nicht allein klar. Sie wohnt bei einer älteren Schwester und deren Familie. Das ist die einzige weiße Familie, die im gesamten Block übrig geblieben ist. Sie ist die Komische, die niesagt, wo sie hingeht, die selten mit den anderen zusammen isst, die nie heiraten wird.
    Vielleicht gab es keinen Terminus technicus oder medizinischen Namen für das, was sie machte oder was sie war. Sie schlenderte einfach daran vorbei, frei von alldem.
    Er spürte die Hitze, Hitze der Bangladeshis, Hitze der Karibik. Er las die Namen auf den Schaufenstern der Geschäfte hier. Das sieht sie jeden Tag, Tattoo-Chaos, Gemeinde-Prothesen-Center. Er beschloss, in Sichtweite des Aufgangs zu den Hochbahngleisen zu warten. Wenn ein Film lief, würde sie sich irgendwann blicken lassen, um die U-Bahn zu nehmen. Er aß irgendwas in Kabirs Bäckerei und wartete, dann ging er zu Dunkin’ Donuts und aß noch was und wartete, aus dem Fenster schauend. War das seine erste Mahlzeit heute? Aß sie auch etwas, während er aß? Aß die Hungerleiderin überhaupt etwas?
    Er stand im Schatten an der Ecke, unter der Hochbahn, Züge kamen und fuhren weiter, überall Leute, und er beobachtete sie, das tat er so selten, gemächlicher Abend. Nichts hier war ungewöhnlich, aber er sah sich veranlasst, die Szenerie zu betrachten, nach etwas zu suchen, das er nicht identifizieren konnte. Dann sah er sie auf der anderen Straßenseite. Sie war die geborene Unauffällige, dachte er, nur er sah sie. Dafür sorgte sie, das trug sie in sich, mit ihrem argwöhnischen Blick und angespannten Körper, der Innerlichkeit, der Berührungsleere. Wer berührte sie, je?
    Jetzt hatte sie einen dunklen Pullover an, V-Ausschnitt, und aus ihrer Umhängetasche ragte ein Knirpsgriff.
    Nimm den Knirps mit, hatte ihre Schwester gesagt. Für alle Fälle.
    Er folgte ihr nach oben auf den Bahnsteig, denselben wie zuvor,Richtung Norden, und das musste er erst mal verdauen, dass sie nicht zurück nach Manhattan fuhren. Sondern fünf Haltestellen bis zum Ende der Linie, dann ging sie hinunter auf die Straße, wo sie einen wartenden Bus bestieg. Er fühlte sich verloren und dumm bei diesem Blindwandern, als passives Opfer irgendeiner trüben Manipulation. Er stand außerdem kurz davor, den Kontakt abzubrechen. Da war der Bus, Bx29 hieß die Linie. Ständig stiegen Leute ein, und irgendwann folgte auch er und setzte sich weit vorn hin. Nichts passierte, aber die Zeit schien vorbeizurasen. Er konnte es durchs Fenster sehen, den dunkler werdenden Himmel, alles in Bewegung. Ein Mann und eine Frau hinter ihm sprachen Griechisch. Wohnten die Griechen nicht in Queens?
    Dann ging es an einer Landschaft aus Schnellstraßen, Zubringern, Ringstraßen und Autobahnkreuzen vorbei, der Bus fuhr in einen immensen Einkaufskomplex, mehrere zusammengewucherte Malls, überall überregionale Namen, Franchise-Läden und Megastores, hundert himmelstürmende Markenlogos und ganz da hinten, jenseits, die Lichter und regelmäßigen Umrisse eines großen Hochhäuserbogens.
    Beim Aussteigen streifte sie beinahe seine Schulter. Erst als er auf dem Bürgersteig stand, wurde ihm klar, dass er sich vor einem Kino befand. Er starrte in die transparente Fassade hinein. Jetzt war er wieder bereit zu glauben. Da stand sie im Foyer, ihr undeutlicher Körper bewegte sich an der gewundenen Kartenschlange entlang. Er war bereit, dem Augenblick zu vertrauen, er selbst zu sein, wie ein Mann, der nach einem Paniktraum erfrischt erwacht.
    Er warf einen Blick auf den Bildschirm mit der Filmliste und den Anfangszeiten und kaufte eine Karte für den Film, dergleich beginnen sollte. Er fuhr mit der Rolltreppe in die erste Etage und betrat das Kino 3. Da saß sie am Ende einer Reihe weit vorn. Er setzte sich, wo er Platz fand in dem vollen Haus, und versuchte, im Gleichtakt mit ihr zu denken, zu fühlen, was sie fühlte.
    Immer diese Erwartung. Sich unweigerlich zu freuen, unabhängig von Titel, Handlung oder Regisseur, und dem Gespenst der Enttäuschung entkommen zu können. Es gab keine Enttäuschungen, nie, nicht für ihn, nicht für sie. Sie sollten hier eingehüllt werden, transzendiert. Irgendetwas würde an ihnen vorbeifliegen und hinter sich greifen, um sie mitzunehmen.
    Das war die unschuldige Oberfläche, Leihgabe der Kindheit. Da war noch mehr, aber was war es? Etwas, das er bislang noch nie zu durchdringen versucht hatte, die Crux, der Mensch zu sein, der er
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