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Titel: Suche: Roman
Autoren: Monica Kristensen
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KAPITEL 1
SPUREN
    Donnerstag, 22. Februar, 13.30 Uhr
    Er hockte sich hinter einen großen Schneewall und bewegte sich vorsichtig auf den Knien voran. Hinter ihm lagen weitere Schneewehen, die die Straße hinauf zu den Häusern von Blåmyra verdeckten, dort, wo die Junggesellen der Bergbaugesellschaft wohnten. Ab und zu fuhr ein Auto vorbei, doch die Scheinwerferlichter erreichten ihn nicht. In der letzten halben Stunde war kein Fußgänger vorbeigekommen. Es war unwahrscheinlich, dass ihn jemand bemerkte, dort, wo er hockte. Er selbst dagegen hatte freie Sicht.
    Es war schneidend kalt. Er zog sich die Kapuze fest ums Gesicht und drückte die Pelzkrempe dicht an die Stirn. Nach einer Weile begann sich unten etwas zu regen. Kleine Gestalten tapsten und krabbelten in den Schnee hinaus, der im Laufe der Nacht gefallen war. Er hielt konzentriert Ausschau und entdeckte fast sofort, wonach er suchte. Seine Augen verengten sich vor Freude. Das kleine Bärchen spielte heute auch draußen. Die Kleine kullerte einen Abhang hinunter und war sofort voller Schnee. Sie schaffte es, sich aufzurappeln, fiel wieder hin und geriet außer Sicht, kam aber schnell wieder zum Vorschein. Zwei Kaninchen hüpften und rutschten auf sie zu. Das eine Kaninchen war grün, eines seiner Ohren war halb abgerissen, so dass es über der Wange baumelte. Das andere war blau. Er schaute ihnen noch lange, nachdem sie hinter einem Schuppen am anderen Ende des Spielplatzes verschwunden waren, nach.
    Nach ein paar Minuten rutschte er näher. Er wusste, dass sie hinter dem Schuppen über den Zaun klettern konnten. Hier hatte sich eine so hohe Schneewehe aufgetürmt, dass selbst die Kleinsten es über den Zaun schafften. Aber sie wollten nicht immer. Manchmal blieben sie auch nur stehen und schauten ihn mit ihren glänzenden, fragenden Augen an – als verstünden sie nicht, was er wollte, wenn er ihnen zuwinkte, damit sie näher kämen.
    Traute er sich heute, ihnen etwas zu essen zu geben – vielleicht eine Apfelsine? Nein, dazu war es zu kalt. Es war wohl das Sicherste, bei Süßigkeiten zu bleiben. Die mochten sie immer. Er zog sich einen Handschuh aus und wühlte in den tiefen Taschen.
    Auf der anderen Seite des Hauses stand die Leiterin des Kindergartens zitternd vor Kälte oben auf dem Treppenabsatz vor der Eingangstür. Sie schaute ängstlich den Fußweg hinauf, der am Kindergarten vorbeiführte. Es war Ende Februar und der Himmel deutlich heller als noch vor ein paar Tagen. Nicht mehr lange, dann würde die Sonne zum ersten Mal im Jahr zu sehen sein. Die Berge um die kleine Polarstadt herum ragten hoch auf und verschwanden in einem Märchenland von Wolken in Rot und Gelb. Aber die Häuser von Longyearbyen lagen immer noch in tiefen blauen Schatten.
    Die Kindergartenleiterin fror in ihrem grob gestrickten Pullover, blieb aber trotzdem draußen stehen und spähte besorgt den Weg zu dem kleinen Markt mit all seinen Lichtern hinauf. Einzelne Gestalten huschten in die Geschäfte oder stolperten aus ihnen heraus, die wenigsten blieben stehen, um sich miteinander zu unterhalten. In der ruhigen kalten Luft waren alle Geräusche deutlich zu hören, wenn auch gedämpft – als wären sie in einer kleinen Schachtel eingefangen.
    Wo war dieses anstrengende Mädchen geblieben? War es ihr tatsächlich gelungen, auszubüchsen? Die Leiterin konnte eine gewisse Unruhe nicht abschütteln, gleichzeitig fragte sie sich, wie es Ella gelungen sein sollte, die Außenpforte zu öffnen. Schließlich war sie ganz oben, außer Reichweite von kleinen Kinderfingern, mit einem Schnappschloss versehen. Nein, sie würde sicher wieder auftauchen, genau wie auch die anderen Kinder im Laufe des Winters immer wieder aufgetaucht waren. Es war nur so ärgerlich, nicht zu wissen, wo sie sich versteckten. Und ganz und gar unerklärlich, wie es ihnen gelungen sein sollte, eine Ecke zu finden, in der sie nicht entdeckt wurden. Nicht unbedingt beängstigend. So weit wollte sie nicht gehen. Aber ärgerlich, das schon.
    Der Kindergartenleiterin war allerdings klar, dass sie etwas sah, was sie beunruhigte. Auf dem Fußweg hinunter zum Polarhotel verlief eine deutliche Spur. Oder besser gesagt: verliefen zwei Spuren. Eine schnurgerade Linie aus Abdrücken von Erwachsenenschuhen. Und daneben winzig kleine Abdrücke von Kinderschuhen, die sich ab und zu mit den Spuren der großen Schuhe verflochten. Konnte jemand Ella abgeholt und mitgenommen haben, ohne Bescheid zu sagen? In diesem Fall wollte sie
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