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Der dunkle Kuss der Sterne

Der dunkle Kuss der Sterne

Titel: Der dunkle Kuss der Sterne
Autoren: Nina Blazon
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unnachgiebig half meine Mutter mir auf die Beine. Jetzt entdeckte ich auch Vida und meine Freundinnen, hastig angekleidet drückten sie sich etwas weiter hinten im Flur herum. Vermutlich hatten sie meine Eltern gerufen.
    Obwohl ich immer noch zitterte, schämte ich mich, ein solches Bild zu bieten. Mein Haarknoten hatte sich im Handgemenge gelöst, wirr hingen mir die welligen Strähnen über das Gesicht. Hastig strich ich sie mir aus der Stirn und hinter die Ohren, wischte mir die Tränen mit dem Handrücken ab und sah meine Mutter an. »Gütiger Himmel«, murmelte sie. Sie packte mein Kinn und drehte mein Gesicht hin und her. Mit einem raschen Seitenblick auf meine Freundinnen nahm sie ihr graues Schleierhalstuch ab und warf es mir über den Kopf, als wollte sie mein Gesicht verhüllen. Hatte ich von dem Kampf mit dem Leibwächter eine Schramme im Gesicht? Oder sollte einfach niemand mein verweintes Gesicht sehen?
    »Dafür werdet ihr bezahlen«, sagte mein Vater sehr ruhig zu den Türwächtern. Er musterte die beiden Männer mit seinem Richterblick, der schon Unschuldigen den Angstschweiß auf die Stirn getrieben hatte. »Niemand legt ungestraft Hand an eine Moreno.« Es klang wie ein beiläufig gesagter Satz, fast freundlich, aber alle wussten, dass in dem Moment, als mein Vater den Blick abwandte, zwei Leben unwiderruflich zerbrachen. Die beiden Wächter wurden so weiß im Gesicht, dass sie in ihren dunklen Anzügen wie Schwarzweißfotografien wirkten.
    »Komm!« Meine Mutter wollte mich mit sich ziehen, aber endlich erwachte ich aus dem Schock und machte mich los. »Nein, ich muss zu Tian!«
    »Sie hat gesagt, ihm ist etwas passiert«, kam mir Vida zu Hilfe. »Deshalb ist sie losgerannt. Sie spürt, dass ihm etwas zugestoßen ist!«
    »Das ist Unsinn«, erwiderte mein Vater unwillig. »Das Zentrum ist der sicherste Ort der Welt.«
    »Aber warum fühle ich ihn dann nicht mehr?«, flüsterte ich. »Es ist, als wäre die Verbindung zwischen uns … abgerissen!«
    Meine Mutter begriff schneller als mein Vater. »Minas!« Mehr als den Namen meines Vaters musste sie nicht sagen. Mein Vater winkte seine Leibwächter herbei. Sie entsicherten ihre Revolver und öffneten die Tür. Ein Rechteck aus Schwärze und Stille tat sich auf. Ich wollte mich hineinstürzen, doch schon nach einem Schritt sackten meine Knie unter mir weg. Und schon waren meine Freundinnen neben mir, ergriffen meine Hände, legten den Arm um meine Taille, hielten mich aufrecht, während ich mit den Lippen nur stumm Tians Namen formte. Und in Gedanken die Worte: Bitte nicht!
    Meine Mutter redete auf mich ein, aber ich hörte sie nur noch wie ein Echo aus der Ferne. Die Kraft verließ meine Beine endgültig. Glühende Motten begannen vor meinen Augen zu tanzen und der Boden wurde zu einem Mahlstrom aus Marmor.
    *
    Als ich das zweite Mal an diesem Tag erwachte, blickte ich auf Lichtflecken an der Wand. Die roten Strahlen der Morgensonne fielen durch Fensterläden aus geschnitztem, durchbrochenem Elfenbein und beleuchteten das hölzerne Relief an der Wand: das Zeichen des Augensterns, Wahrzeichen meiner Familie. Um das Relief schlang sich die rote Schlange, gefertigt aus Korallen – das Zeichen von Tians Familie, den Labranakos, die vor hundert Jahren von den Perlinseln in die Stadt kamen, um Handel zu treiben – und heute zum Fünfgestirn der höchsten Familien zählten.
    An der Wand unter dem Doppelbild befand sich mein Kerzenleuchter aus lackiertem Schwarzholz. Vier Kerzen in meiner Lieblingsfarbe – rot – reihten sich darin auf. Ich war also zu Hause. Meine Eltern und Vida saßen an meinem Bett. Für einen Augenblick schien Tians Gegenwart so nah, dass ich erwartete, ihn ebenfalls an meinem Bett sitzen zu sehen – in den grünen Augen ein verschmitztes Lächeln, die linke Augenbraue spöttisch hochgezogen. Ich konnte seine Stimme fast hören. » So schlecht geträumt, mein schöner Stern?«
    Aber dann fiel die Wirklichkeit auf mich zurück. Schmerz pulste bei jedem Atemzug durch meine Seite, dort, wo der Hieb mich getroffen hatte. Es kostete mich unendlich viel Kraft, auch nur zu flüstern.
    »Ist er … tot?«
    »Zumindest schläft er wie ein Toter«, antwortete mein Vater in seiner trockenen Art. »Die jungen Männer liegen friedlich und unversehrt im Bett. Die Lampe war ausgegangen, wir haben sie wieder entzündet. Und da sah ich deinen Rotschopf, das Gesicht im Kissen vergraben. Er hat friedlich geatmet und die anderen schnarchen vor sich
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