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Der dunkle Kuss der Sterne

Der dunkle Kuss der Sterne

Titel: Der dunkle Kuss der Sterne
Autoren: Nina Blazon
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hin. Sie schlafen immer noch ihren Rausch aus. Nichts ist ihm zugestoßen, Canda. Gar nichts.«
    Ich hatte nie gewusst, wie es sich anfühlte, weiterleben zu dürfen, nachdem man gedacht hatte, man würde sterben. Wenn man geglaubt hatte, dass eine Hälfte des eigenen Ichs unwiderruflich verloren war, der Mensch, den man am meisten liebte, tot – und dann erkannte, dass alles nur ein böser Traum gewesen war. Jetzt musste ich mich beherrschen, um nicht laut und würdelos zu schluchzen, so glücklich war ich. Meinem Geliebten ging es gut, ich würde morgen neben ihm aufwachen und seine Lider sacht mit den Lippen streifen, um ihn zu wecken. Und er würde mir sein verschlafenes, verliebtes Lächeln schenken und mich Stern nennen. Ich würde ihn küssen, die Finger in seinen roten, weichen Locken vergraben, versunken in seinen Lippen und seinem Atem.
    »Danke!«, flüsterte ich aus tiefstem Herzen, ich weiß nicht, zu wem.
    Mein Vater stand abrupt auf und ging wortlos aus dem Raum. Noch nie hatte er sich ohne Gruß von mir abgewandt. Aber ich verstand es sogar. Ich hatte mich würdelos benommen, von Angst und kindischem Aberglauben getrieben wie eine Niedere. Für meinen stolzen Vater, dem das Ansehen unserer Familie über alles ging, gab es nichts Schlimmeres.
    Ich schämte mich unendlich. Aber das Schlimmste war, dass ich auch noch zwei Unschuldige mit meinem Auftritt ins Unglück gestürzt hatte. Vermutlich hatten die Wächter mich tatsächlich nicht erkannt, ich hatte mich benommen wie eine Wahnsinnige, nicht wie eine Hohe Tochter. Vielleicht konnte ich Tians Familie davon überzeugen, die Männer wenigstens nicht zu töten.
    »Es tut mir leid«, sagte ich in die Stille. »Ich verstehe selbst nicht, was in mich gefahren ist.« Meine Stimme war immer noch schwach und ohne Klang. Ich versuchte mich trotzdem an einem zaghaften Lächeln. Vida biss sich auf die Unterlippe und blickte schnell weg.
    Meine Mutter schwieg immer noch, in den Händen hielt sie das graue Schleiertuch.
    Draußen wirbelte der Sand mit leisem Sirren durch einen Luftschacht zwischen zwei Häusern. Das Geräusch brachte Tian zu mir. In den kühleren Sommernächten saßen wir in letzter Zeit oft auf dem Dach und lauschten gemeinsam diesem Lied des Sandes. Plötzlich fehlte er mir so sehr, dass es wie ein schneidender Schmerz im Zwerchfell war.
    »Warum bin ich nicht im Prunkzimmer?«, brach ich das Schweigen.
    »Die Fragen stelle ich , Tochter«, erwiderte meine Mutter barsch.
    Ich biss mir auf die Unterlippe. Es war nicht der Zeitpunkt, einen Streit darüber anzufangen, dass sie mich wie ein kleines Mädchen behandelte. Sie würde es auch diesmal nicht verstehen, denn so ähnlich wir uns sahen, in unserem Wesen waren wir wie Feuer und Wasser. Zu Vida war meine Mutter zärtlich und freundlich, bei mir aber kannte sie keine Nachsicht. Auf eine Art verstand ich es: Ich war die Ältere, auf mich kam es an. Die Hoffnungen meiner Familie standen und fielen mit mir. Aber als Kind hatte ich oft darunter gelitten, nie wirklich ihre Tochter sein zu dürfen. Dennoch hatte ich großen Respekt vor meiner Mutter, denn es gab keine sachlichere und unbestechlichere Richterin. Zusammen mit der Kombinationsgabe und der Autorität meines Vaters bildeten meine Eltern die höchste Richterzweiheit der Stadt. Und selbst jetzt machte meine Mutter aus der Situation ein Verhör.
    »Was ist heute Nacht passiert, Canda?«
    Es hatte keinen Sinn, sich herauszureden. »Ich … habe geträumt. Und ich war verwirrt davon. Ich weiß, es war dumm. Es tut mir leid.«
    »Was habt ihr Mädchen heute Nacht getan? Alle Details! Haben deine Freundinnen jemanden ins Brautzimmer gelassen? Oder war jemand dort versteckt?«
    »Wir haben nichts Falsches getan!«, meldete sich Vida zu Wort. »Das habe ich dir doch schon erklärt, wir …«
    »Schweig! Ich rede mit deiner Schwester!«
    »Und niemand war bei uns«, bestätigte ich.
    »Habt ihr die Rituale verändert oder nicht ausgeführt?«
    »Nein! Glaubst du, ich weiß nicht, was ich zu tun habe?«, schnappte ich.
    Meine Mutter beugte sich zu mir und starrte mir prüfend in die Augen. Wenn wir uns so nahe waren, war es stets ein bisschen so, als blickte ich ein gealtertes Spiegelbild an. Ich hatte das dunkle, wellige Haar mit den goldenen Lichtern von ihr geerbt. Und auch ihre braunen Augen. Sie hatten eine ungewöhnliche Form, leicht mandelförmig, betont durch Brauen, die wie Schwalbenflügel in einem kleinen Aufwärtsschwung endeten. »Das
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