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Der dunkle Kuss der Sterne

Der dunkle Kuss der Sterne

Titel: Der dunkle Kuss der Sterne
Autoren: Nina Blazon
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Muttermal neben dem rechten Mundwinkel. Es war mein Gesicht … irgendwie. Und auch wieder nicht. Das Mädchen im Spiegel sah zwar genauso aus wie Canda Moreno – aber sie war es nicht. Sie war hässlicher und unscheinbar, ohne dass man sagen konnte, woran es lag. Etwas Wesentliches schien zu fehlen, ich wusste nur nicht, was es genau war.
    Zum ersten Mal in meinem Leben kostete es mich Überwindung, näher zum Spiegel zu treten. Kein Zweifel, es war mein Gesicht mit den klaren Zügen, die fast ein wenig scharf wirkten. Und auch meine Wüstenaugen. Normalerweise strahlten sie, als würden sich Funken darin fangen, aber heute wirkten sie … nichtssagend, wie erloschen. Auch meine Haut wirkte wie ausgewaschen, nichts schien zusammenzupassen. Das Schlimmste aber war, dass ich fast so aussah wie eine der Gewöhnlichen aus dem mittleren Ring, die im Rang so tief unter mir standen wie eine Sandkrabbe unter einem Stern am Himmel. Was hatte der Leibwächter gesagt? »Die Ähnlichkeit ist da und passend verkleidet ist sie auch.«
    Ich weiß nicht, wie ich aus dem Bad gekommen war. Ich hatte nur den blinden Gedanken, zu meiner anderen Hälfte zu flüchten. Tian würde mich wiedererkennen und auf seine übermütige Art lachen. Er würde mich küssen und diesen Albtraum vertreiben.
    Vida wollte mich wieder zurückhalten, aber meine Mutter bedeutete ihr mit einer knappen Geste, dort zu bleiben, wo sie war. Sie selbst machte keine Anstalten, mich am Gehen zu hindern, und sie sagte auch nichts, als meine Hand schon auf der Klinke lag.
    Es war fast eine tröstliche Erkenntnis, dass selbst im Nebel von Panik und Verwirrung ein Teil von mir nicht verschwunden war: der Teil, der begriff, worum es wirklich ging. Nicht um mich, denn alles war verbunden. Wir stiegen auf und wir fielen gemeinsam. So war es seit jeher. Hier herrschte niemand allein, nur Mann und Frau zusammen ergaben das Ganze. Aber nun war Tians und meine Zweiheit in Gefahr – auch wenn er es noch nicht ahnte. Denn irgendetwas Schreckliches war mit Canda Moreno geschehen. Das, was mich ausmachte, war einfach verschwunden. Irgendetwas hatte den Glanz von meiner Haut genommen, den Klang aus meiner Stimme, die Stärke aus meinen Knochen und den Mut aus meiner Seele.
    Ich ließ die Klinke los und trat einen Schritt zurück. Wie in Trance drehte ich mich um. »Er darf mich nicht so sehen«, flüsterte ich.
    Meine Mutter stand auf und strich sich mit einer sehr akkuraten Geste den schmalen Rock glatt. Mit gemessenen Schritten kam sie auf mich zu.
    »Das beruhigt mich, Canda, denn es zeigt mir, dass du trotz allem noch eine Moreno bist.«
    Ich wünschte, sie hätte nicht so erleichtert geklungen.
    » Ich bin gestorben«, flüsterte ich mit dieser Stimme, die mir fremder war denn je.
    Und an diesem Tag, an dem nichts mehr so war wie zuvor, trat meine Mutter auf mich zu, nahm mich vorsichtig in die Arme und streichelte meinen Rücken wie einmal vor sehr langer Zeit, als ich ein kleines Mädchen gewesen war und wir uns nach einem Streit wieder versöhnt hatten.
    »Scht, sag so etwas nicht«, murmelte sie in mein Haar. »Alles wird gut, Canda.«
    Doch wir beide wussten, dass meine Mutter zwar die beste Richterin, aber die schlechteste Lügnerin war.

Vida hatte alle Spiegel abgehängt und die Fensterläden geschlossen, ohne dass ich sie darum bitten musste. Ich ertrug keinen Sonnenstrahl, nicht einmal ein flüchtiges Spiegelbild in einer Fensterscheibe.
    Draußen vor der Tür hörte ich aufgeregte Stimmen, schnelle Schritte, zufallende Türen. Ich konnte mir denken, was in unseren Räumen gerade vorging: Meine Eltern hatten unsere Blutsverwandten zu sich gerufen. Die meisten von ihnen bekleideten hohe Ämter in der Stadt. Die Dienstboten waren fortgeschickt worden, der Familienrat tagte im Geheimen. Seit Stunden wurden Strategien ersonnen, es wurde diskutiert und entschieden, was als Nächstes zu tun war – zum Wohle der Morenos. Nur unsere Arzt-Zweiheit – ein Cousin meines Vaters und seine Frau – hatten mich kurz besuchen dürfen. Dass meine Eltern meine anderen Verwandten nicht zu mir ließen, machte mir noch einmal schmerzhaft klar, wie schlimm es um mich stand. Aber das Einzige, woran ich denken konnte, war: Wie hatte Tian auf die Nachricht reagiert, dass ich krank war? Machte er sich große Sorgen um mich? Und warum spürte ich seine Gegenwart nicht mehr?
    Ich war fast dankbar, als die Tür aufging und ein Lichtstrahl in meinen Kokon aus Düsternis schnitt. Vida
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