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Der dunkle Kuss der Sterne

Der dunkle Kuss der Sterne

Titel: Der dunkle Kuss der Sterne
Autoren: Nina Blazon
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Am Morgen vor meiner Hochzeit erwachte ich, ohne zu ahnen, dass ich tot war, obwohl mein Herz noch schlug. Wie eine Katze, die aus großer Höhe gefallen und instinktiv auf allen vieren gelandet war, kauerte ich auf dem Bett. Tränen tropften auf meine Fäuste und meine Finger pochten, so fest krallte ich mich in die Seidenlaken. Ein Teil von mir schien immer noch zu schlafen, denn die Bilder und Klänge aus dem Albtraum hallten in mir nach: Weinen und Schreie, verzerrte Gesichter von Menschen, die ich noch nie in meinem Leben gesehen hatte. Doch das Schlimmste war das Gefühl von abgrundtiefer Einsamkeit: Eis auf meiner Seele und eine hallende Leere im Herzen.
    Du hast nur geträumt, Canda , beruhigte ich mich. Träume bedeuten nichts. Und schau hin! Du bist nicht einsam – am wenigsten in der letzten Nacht deines alten Lebens.
    Es erstaunte mich trotzdem, wie erleichtert ich war, die Mädchen zu sehen. Aneinandergeschmiegt lagen sie auf dem Prunkbett, das so groß war wie sechs gewöhnliche Betten. Alle drei schliefen noch: meine jüngere Schwester Vida und meine zwei besten Freundinnen, Zabina und Anib. Sie waren Zwillinge, beide geschmeidig und sehr schlank, die besten Tänzerinnen in der Stadt. Nicht einmal ihre Mutter konnte die beiden auseinanderhalten, aber ich hätte jede von ihnen auch blind erkannt. Auf den goldfarbenen Laken wirkte ihre Kastanienhaut noch dunkler und das Schwarz ihrer Haare lichtlos.
    Im Schlaf hatte Anib die Decke von sich geschoben, auf ihrem Körper glänzten blaue Symbole. So wie es seit Jahrhunderten Tradition war, hatte ich um Mitternacht alle drei Mädchen mit dem Schattenblau meiner Familie gezeichnet. Mit Ornamenten, Mustern und Zeichnungen, die die Mythologie meiner Vorfahren beschworen: das Herrscherpaar, wie es den ersten Stein unserer Stadt in den Wüstensand setzte. Tana Blauhand, die einzige Figur, deren Arme bis zu den Ellbogen ganz mit dem kriegerischen Blau ausgemalt waren, und ihr Gefährte, den man Khelid Wolfsherz nannte und der zum Zeichen seiner Grausamkeit mit einem Raubtierkopf dargestellt wurde. Über den beiden schwebten vier Sterne mit Augen, die wohlwollend auf sie herunterblickten. Es gab viel zu erzählen über meine Vorfahren, denn ich stamme aus der ältesten der fünf großen Familien Ghans. Bevor die anderen Familien zugewandert waren, hatte die Wüste uns allein gehört. Auf den Schultern und Schlüsselbeinen meiner Mädchen erhoben sich Zelte, auf den Oberarmen und Rippen prangten Pfeile und Äxte, archaische Waffen, passend zu der längst vergangenen Urzeit, aus der diese verstaubte Tradition stammte.
    Unendlich viele langweilige Unterrichtsstunden hatte ich als Kind damit verbracht, diese Zeichnungen zu üben – im vollen Bewusstsein, dass es nur ein altes leeres Ritual war und mir für mein Leben nichts nützen würde. Entsprechend waren meine Zeichnungen in dieser Nacht ausgefallen: Die Zelte wirkten windschief und einer der Sterne schien zu schielen.
    »Na, wenn du so herrschst, wie du zeichnest, wirst du in die Geschichte deiner Familie eingehen – als Canda, die Nachlässige«, hatte Zabina gespottet.
    Und Anib setzte nach: »Ja, stellt euch vor, sie wird eines Tages tatsächlich die neue Mégana und gibt sich mit Verträgen und Strategien genauso viel Mühe – dann landen wir alle wieder in der Wüste.«
    Meine Schwester Vida war empört, aber ich hatte über den Spott meiner Freundinnen nur gelacht. Ich wusste, sie neideten mir und Tian nicht, dass wir die Hoffnungsträger unserer Familien waren. Und sie waren klug genug zu wissen, dass ich meine Freunde niemals vergaß – egal wie hoch mein Geliebter und ich aufsteigen würden. Beim Gedanken an unsere Zukunft hatte mich wieder diese Woge von Glück erfasst, die mich seit Wochen immer atemlos machte – seit Tian und ich unsere Unterschriften unter den siebzigseitigen Vertrag gesetzt hatten, die letzte Hürde vor der Zeremonie unserer endgültigen Verbindung. Heute durften wir endlich das werden, wofür wir vor siebzehn Jahren geboren wurden: eine Zweiheit, ein Paar, eine Seele, ein Körper, ein Gedanke, mit aller Macht, die daraus entsprang – und aller Verantwortung. Im Gefüge unserer Familien würden wir der Metropole Ghan zu noch mehr Macht verhelfen. Jeder mit seinen Talenten und Fähigkeiten.
    Aber jetzt, nach diesem Traum, schien all das so unwirklich zu sein wie Nebel.
    Noch nie hatte ich mich so unvollständig gefühlt, so schutzlos und verloren. Im flackernden Schein der
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