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Der dunkle Kuss der Sterne

Der dunkle Kuss der Sterne

Titel: Der dunkle Kuss der Sterne
Autoren: Nina Blazon
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Papierlampe, die über dem Bett hing, schienen sich die blauen Strichfiguren auf Anibs Wangen zu bewegen, und die Sterne auf ihrer Stirn starrten mich feindselig an. Ich fröstelte und wusste nicht, warum ich plötzlich wieder Angst bekam.
    Tod!
    Ich schrak zusammen. Es war, als hätte jemand mir dieses Wort zugeflüstert, doch niemand war hier. Es musste ein Nachhall aus diesem Traum sein, an den ich mich kaum noch erinnerte.
    Meine Hände waren noch so starr, dass es wehtat, die Fäuste zu lösen. Leise glitt ich vom Bett. Doch schon das Schleifen der Seidendecke störte den leichten Schlaf meiner Schwester. Vida regte sich, eine Strähne ihres Haares, von der Sonne fast weiß gebleicht, rutschte über ihre Wange. Meine Schwester und ich waren wie Tag und Nacht – sie blond wie unser Vater, mit einem runden, sanften Gesicht, dessen Weichheit gut verbarg, wie durchsetzungsstark sie war. Ich war dagegen groß und dunkelhaarig wie meine Mutter. Und meine Stärke lag nicht in der Schärfe, sondern darin, mit meiner Schönheit und meinem Gespür ungewöhnliche Wege zu finden, zu verbinden, was unvereinbar schien.
    »Canda? Ist es schon Morgen?« Wenn Vida so müde war, sah sie immer aus wie ein sehr viel jüngeres, verträumtes Mädchen.
    »Noch nicht, Floh. Schlaf noch ein bisschen.« Ich erschrak, wie fremd mir meine eigene Stimme war. Hohl und dünn, ohne das Klingen, das Menschen, die mit mir sprachen, stets zum Lächeln brachte.
    Ich fiel fast, während ich vom Bett kroch, und taumelte schon beim ersten Schritt, als hätte sich das Gleichgewicht in meinem Körper über Nacht verschoben, als würde mir etwas fehlen – ein Körperteil, ein Bein vielleicht, ein Arm? Aber das war natürlich Unsinn, alles war wie immer und gleichzeitig völlig verkehrt.
    Ich erreichte die Fenster und riss den Vorhang zur Seite. Goldseide bauschte sich. Draußen scharrte der sandige Wind an den Scheiben entlang, Wirbel bildeten bizarre Figuren in der Luft. Obwohl es fast noch Nacht war, erkannte man bereits, dass es ein stürmischer Sommertag werden würde.
    Ich legte die Hände und meine Stirn an die Scheibe und starrte zu dem gegenüberliegenden Gebäude. Im ersten fernen Schimmer der Morgenröte glänzten die obersten Fenster wie blassrosa, schlafmüde Augen. Hinter den Vorhängen schliefen mein Geliebter und seine Freunde.
    »Komm zum Fenster und sieh mich an!«, flüsterte ich. Ich hoffte so sehr, dass er ebenfalls aufgewacht war und meinen Ruf spüren würde. Dann könnten wir uns über den Abgrund von zwanzig Stockwerken hinweg betrachten – winzige Figuren über den silbernen, vom Sand matt gekratzten Kuppeldächern unserer Metropole. Sicher hatte Tian ebenso schlecht geschlafen wie ich, in den vergangenen Tagen hatte er zerstreut gewirkt und seltsam schweigsam, vielleicht war es ihm ähnlich gegangen wie mir heute? Es geschah oft, dass wir dasselbe dachten und Schmerz und Freude des anderen spürten. Unsere Familien waren glücklich darüber, schließlich war es der Beweis, wie sehr wir füreinander bestimmt waren. Seit wir Kinder waren, waren wir selten länger als einen Tag getrennt gewesen. Wir teilten alles, was wir hatten und waren, stimmten uns darauf ein, gemeinsam zu entscheiden, gemeinsam zu sein und für den Rest unseres Lebens im Gleichklang zu schwingen wie zwei Instrumente, deren Stimmen zu einem einzigen Klang verschmolzen.
    Aber ausgerechnet an dem Morgen unserer offiziellen Verbindung war es, als hätte dieser Gleichklang nie existiert.
    Mein Atem legte einen Schleier über die Scheibe, das Fenster im anderen Haus blieb leer, und als ich blinzelte, tropften Tränen von meinen Wimpern. Mach dich nicht lächerlich , schalt ich mich. Träume bedeuten nicht mehr als Wetterleuchten. Nur Geisteskranke schenken ihnen Glauben. Aber gleichzeitig legte sich die Angst wie eine Sandschicht auf meine Seele. Irgendetwas war passiert!
    »He!«
    Ich fuhr herum und musste mich mit dem Rücken an die Scheibe lehnen, sonst hätten meine Knie nachgegeben.
    Meine Schwester war lautlos an mich herangetreten, stolz, aufrecht, ohne ein Lächeln. Aber jetzt, als sie mir mitten ins Gesicht sah, stolperte sie erschrocken zurück. Unwillkürlich warf ich einen Blick über die Schulter, doch hinter mir war nichts, was sie erschreckt haben könnte, nur Sandwirbel und die erste Ahnung von Helligkeit.
    »Canda?«, fragte meine Schwester so verwundert, als hätte sie mich eben erst erkannt.
    »Jemand ist gestorben!« Es rutschte mir einfach
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