Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der dunkle Kuss der Sterne

Der dunkle Kuss der Sterne

Titel: Der dunkle Kuss der Sterne
Autoren: Nina Blazon
Vom Netzwerk:
gezwungen, nur um dich mit seinem Anblick zu quälen . Ich erinnerte mich zu gut daran, wie feindselig die Mégana mit Amad umgegangen war. Und jetzt verstand ich noch besser, welche Schuld Amad quälte.
    »Die Familie des Jungen, den Ihr geliebt habt, hatte weniger Einfluss als Eure«, sagte ich leise. Sie zuckte zusammen, aber sie sah nicht zu ihm. Aber ich wusste auch so, um wen es sich handelte. Die Graue wartete dort und scharrte am Glas. Und die Wächterschatten tauchten den Winkel der Kammer in dunkles, pulsierendes Licht.
    Ich verließ Tian und das Mädchen und wanderte über das Glas an der Reihe der Schlafenden vorbei. Ich hätte es mir denken können. Er war ein Greis, aber keine Falte zeichnete sein Gesicht. Er wirkte auf gespenstische Weise jung, obwohl sein Haar und sein Bart schneeweiß waren. Kein gelebtes Leben hatte seine Züge gezeichnet. Das war also seine Strafe gewesen: Mit siebzehn war er in diesen ewigen Albtraum gezwungen worden. Seine Lichter dienten irgendwo anderen Herren. Du hast geliebt . Und du hattest Träume, doch man hat sie dir gestohlen. Mitleid schnürte mir die Kehle zu. Gerne hätte ich ihm sanft über das Haar gestrichen. Stattdessen legte ich meine Hand mit dem schattenblauen Mal der Morenos auf das Glas, genau über sein Herz.
    »Nein!«, schrie die Mégana.
    Ich schloss einige Herzschläge lang die Augen und sammelte Mut.
    »Amad!«, flüsterte ich.

Es war ein Knacken, so leise, dass ich es nur spüren konnte. Spinnwebfeine Bruchlinien schienen aus meinen Fingerspitzen zu wachsen und breiteten sich aus, schneller und schneller, erreichten die Wände und kletterten weiter. Putz rieselte und fiel, Staublawinen rutschten, weggesprengt von den wandernden Linien, die bis zur Decke krochen. Die ganze Kammer bestand aus Glas, das Mauerwerk war nur Fassade gewesen.
    Glas, das früher Wasser war , dachte ich. Onyxwasser, Tana Blauhand und die anderen haben es über die blauen Wege in die Wüste und in die unterirdischen Zisternen der Stadt geleitet. Und aus dem Wasser und aus ihrem Verrat, der jedes Gesetz ins Gegenteil verkehrte, schufen sie die Kerker .
    Die Gespenster schrien auf und wichen vor dem wandernden Netz aus Rissen zurück, Juniper packte die Graue am Halsband und zog sie zur Tür. Sie rief mir etwas zu, das ich nicht verstand, zu schrill klang der Alarm, der plötzlich losging.
    Grelle, glasscharfe Kälte durchbohrte jeden meiner Finger. Das Atemholen einer anderen Wirklichkeit ließ mich schwer werden und presste mich gegen das Glas. Jahre und Bilder fremder Erinnerungen durchströmten mich. Schnee und Sand und Sternenschauer. Der alterslose Greis hatte die Augen geöffnet und sah mich an. Dann holte er Luft wie ein Ertrinkender und bog den Kopf zurück, der ganze Körper verkrampfte sich, eine lebende Brücke, die sich vom Hinterkopf zu den Fersen spannte. Meine Hand versank im Glas, und dann sah ich in dem Bruchteil der Sekunde, bevor alles zerbrach: Blaue, pulsierende Waben, Trauben von Gebilden, so dicht, dass ich zwischen ihnen ersticken müsste, und hauchzart wie Seifenblasen. Fäuste trommelten und schlugen mit aller Kraft gegen die schimmernden Häute, die sich bogen, aber nicht brachen. Nur eine einzige Hand war keine Faust. Kratzer von Falkenkrallen zeichneten das Handgelenk und eine Tätowierung, eine Wüstenblume, die beides gewesen war: Freundschaftszeichen und Sklavenmal. Die Hand streckte sich mir entgegen und ich ergriff sie und umklammerte sie so fest, dass es wehtat. In der Ferne tobte die Welt, aber um mich herum war nur noch Dunkelheit, ein sternloser Himmel, finster und einsam und kalt wie zerspringendes Eis. Und darin: ein Duft nach Wüste, kühle Lippen, die meine fanden, und ein Kuss, von dem ich mein Leben lang träumen würde – vielleicht über den Tod hinaus.
    Jemand schrie, aber ich hörte nur eines: einen feinen, sirrenden Klang, wie das Zupfen an einem zum Zerreißen gespannten Faden. Ein Knoten löste sich – irgendwo in Raum und Zeit. Dann folgte eine Explosion aus Watte, die mich taub machte ohne ein Geräusch. Der Druck in meinen Ohren wurde schmerzhaft stark, alle Luft wurde aus dem Raum gesaugt. Und alles Blau zerbrach in Splitter und die Splitter in Tropfen und Wellenschlag. Ich fiel, Kälte schlug über mir zusammen, überspülte mich wie eine Woge aus Eiswasser, schwer wie Marmor. Die Wucht eines Aufpralls schlug mich aus der Welt in eine Schwärze ohne Atem und Licht. Das Letzte, was ich in der ohrenbetäubenden Stille
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher