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Der dunkle Kuss der Sterne

Der dunkle Kuss der Sterne

Titel: Der dunkle Kuss der Sterne
Autoren: Nina Blazon
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stand das Mädchen!
    Ich kam auf die Beine und eilte die Treppe hoch. Aber das Mädchen fiel nicht, es verharrte an der obersten Schwelle, die Arme um den Körper geschlungen. Hellwach und von ihren Lichtern befreit betrachtete sie staunend die Sterne. Ihr braunes Haar fiel in weichen Wellen bis auf ihre Hüften, aber das war nicht die einzige Ähnlichkeit, die sie mit Canda, der Stadtprinzessin hatte. Ich hätte beide Frauen sein können , dachte ich. Dieses Mädchen unter Glas – und die grausame, unglückliche Herrscherin.
    Die Fremde zuckte nicht zusammen, als ich ihr sacht die Hand auf die Schulter legte. Sie wandte nur den Kopf und lächelte mich mit dem Ausdruck einer verwunderten Schlafwandlerin an. »Ich hatte einen wirklich verrückten Traum«, sagte sie leise.



Meine Familie wird mir nicht verzeihen. Es ist Kallas zu verdanken, dass sogar die Höchste Richterzweiheit ihr Leben behalten durfte. Aber noch wissen sie dieses Geschenk nicht zu schätzen. Und vielleicht werden sie es niemals tun. Mein Vater hat kein Wort mit mir gesprochen und mich nicht angesehen, und auch meine Mutter blickte eisern durch mich hindurch, als sei ich eine Tote. Aber sie weinte, als sie mit den anderen Bewohnern die Reste unserer Stadt verließ. Fast hätte ich die strenge Richterin nicht mehr erkannt. Ohne ihre Lichter war sie eine schöne, aber müde ältere Frau, eine Wüstenbewohnerin, die auch die Herrin einer Wasserstation sein könnte. Sie war blass vor Kummer, aber sie strahlte auch etwas Weiches aus, das ich zum ersten Mal an ihr sah. Sie drückte Vida an sich, eine Frau, die unendlich viel verloren hatte und nun versuchte, ihre jüngste Tochter vor einer ungewissen Zukunft zu beschützen. Und vielleicht hätte ich mir eine solche Mutter gewünscht.
    Vida war die Einzige von meiner ganzen Familie, die sich noch einmal zu mir umwandte, bevor sie mit der Kolonne der Zentrumsbewohner durch das Tor in den nächsten Ring ging. Unsere Blicke trafen sich, und sie zögerte, als ich die Hand nach ihr ausstreckte zum Zeichen, dass sie bei uns willkommen war. Ohne ihre Gaben ist meine kleine Schwester ein hübsches, ernstes Mädchen ohne die Schärfe ihrer früheren Autorität und ich liebte sie mehr als je zuvor. Aber vielleicht lieben wir immer das, was wir verlieren, am meisten.
    Ich weiß nicht, ob Vida mich fürchtete oder mir zulächeln wollte. Diese Frage wird mich noch oft beschäftigen, und wer weiß, ob ich jemals eine Antwort bekommen werde. Ich hätte alles dafür gegeben, wenn sie zu mir zurückgekehrt wäre. Aber sie wandte sich brüsk ab und holte rasch zu meinen Eltern auf.
    In den ersten Tagen fanden die Höchsten und Hohen Unterschlupf im dritten und vierten Ring, in den Häusern der Gewöhnlichen, die ihnen anfangs noch gehorchten. Aber bald schon lösten sich die alten Strukturen wie lose Knoten in einem Netz, das niemanden mehr hielt. Staunend beobachtete ich durch ein Fernglas, wie sich alles veränderte: Manche Paare blieben zusammen, als seien sie immer noch Zweiheiten, aber viele andere lösten sich fast unmerklich voneinander, als hätten sie ohne ihre Gaben keinen Grund mehr, ihren Weg gemeinsam zu gehen. Manchmal fanden sie nicht einmal mehr Worte. Freunde drifteten auseinander, ehemalige Bündnispartner schlossen sich neuen Gruppen an. Erstaunlich viele Einzelne reihten sich in die Kolonne jener Menschen ein, die die Wüste schon nach wenigen Tagen ganz verließen und in die Höhlen und in die Berge wanderten. Zurück in die Städte und Länder ihrer Vorfahren. Tians Eltern, Manja und Oné, waren unter denen, die als Erste gingen.
    Amad lässt mich nur ungern in die Nähe der Mauern und Zeltlager. Und wo ich auch bin, nehmen mich die Lichter ganz unauffällig in ihre Mitte, so sehr fürchten sie, die ehemaligen Bewohner Ghans könnten Rache an mir nehmen. Diese Angst ist berechtigt. Hass glüht in den Augen derer, die mich vor wenigen Wochen noch umarmten. Ich mache nicht den Fehler, auf Versöhnung zu hoffen, zu endgültig ist der Schnitt, den ich selbst geführt habe. Als Canda die Schreckliche, werde ich in die Geschichte eingehen, als Verräterin und Zerstörerin der Metropole Ghan. Und vielleicht bin ich ja wirklich nicht besser als die Eroberer früherer Zeiten, die achtlos über die Gebeine der Besiegten schritten. Vielleicht hat meine Mutter recht und es gibt wirklich nur Sieger und Besiegte.
    Und dennoch sind diese Sieger gnädig: Es gab nicht viele Tote, die Kämpfe in den Türmen waren
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