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Der Blutkristall

Titel: Der Blutkristall
Autoren: Jeanine Krock
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Rabe nicht mehr seiner Natur nachgehen?»
    «Weiter!», verlangte Vivianne, bevor die beiden in Streit geraten konnten.
    Der Vogel gab einen merkwürdigen Laut von sich, der beinahe wie ein Knurren klang. «Die Dachluke stand offen. Als ich auf die Straße hinabblickte, sah ich jemanden aus der Tür schleichen. Das hat meinen Verdacht erregt. Also bin ich hinter ihm her, aber plötzlich war er wie vom Erdboden verschluckt. Und das meine ich wortwörtlich. Ich bin seiner Spur in eine Seitenstraße gefolgt, dort hat er einen Kanaldeckel angehoben und ist hineingeklettert.»
    Vivianne überlegte. Nicht selten fand sich in der Kanalisation ein Zugang zu den Katakomben, die den Boden unter der Stadt wie ein von Menschen geschaffenes Höhlensystem durchzogen. Schon in der Vergangenheit hatten dort immer wieder Vampire gelebt, und diese geheimnisvolle Unterwelt galt als ihr Revier. Heute allerdings war es nicht ungewöhnlich, wenn Sterbliche nachts einstiegen und den morbiden Grusel alter Beinhäuser genossen. Der Club, in dem sie gewesen war, gehörte ebenfalls zu diesem System, und mindestens eine der verborgenen Türen, die sie bei ihrem Besuch gesehen hatte, führte weiter in das geheimnisvolle Labyrinth. Nicht auszuschließen, dass es auch heute noch bewohnt war. Sehr wahrscheinlich lebten dort herrenlose Streuner. Das waren Vampire, die von verantwortungslosen Artgenossen geschaffen und dann ihrem Schicksal überlassen wurden.
    Morgans Stimme riss sie aus ihren Gedanken, und zu Viviannes großem Erstaunen erklärte er bereitwillig, was ihn in ihre Wohnung geführt hatte. «Ich war unterwegs, als plötzlich jemand aus dem Haus gerannt kam. Er roch nach Blut. Nicht seins. Das hat mich neugierig gemacht und ich bin durch die Tür, bevor sie wieder zufiel. Die Frau lag am Boden und ...»
    «Du hast wirklich von einer Sterbenden getrunken?» Vivianne fand die Vorstellung abstoßend. Andererseits, die Fremde war in ihre Wohnung eingebrochen und trug Mitschuld am Diebstahl ihres kostbarsten Besitzes. So gesehen war es für die Frau ein großes Glück, dass sie rechtzeitig an den Messerstichen gestorben war.
    «Warum nicht? Sie war nicht mehr zu retten.» Morgan stellte die leere Flasche beiseite. «Dieses Zeug ist nicht schlecht, aber kein Vergleich zu einem Schluck direkt aus der Quelle.»
    «Es ist verboten», sagte Vivianne und erinnerte sich an Cyrons Bemerkung früher am Abend. War Morgan tatsächlich einer dieser Vampire, die sich nicht an die Regeln hielten und ihrer Blutlust ungezügelt nachgaben? Sie würde sich vor ihm in Acht nehmen müssen.
    «Das Töten ist verboten, nicht das Trinken. – Wie auch immer.» Er klang gleichgültig. «Die Leiche muss verschwinden. Das Beste ist, du rufst die Aufräumtruppe.»
    «Auf gar keinen Fall!» Ihr Entsetzen über diesen Vorschlag war so groß, dass sie sich mit seinem unerhörten Befehlston vorerst nicht auseinandersetzen wollte. Würde Vivianne die Purgatoren des Rats einschalten, wäre ihre Wohnung anschließend zwar frei jedweder Spuren, die auf die Anwesenheit der Sterblichen hätten hinweisen können, aber mit der gleichen Sicherheit stünde mindestens Kieran binnen weniger Stunden vor der Tür. Und brüderliche Sorge konnte sie in ihrer Situation gewiss nicht gebrauchen. Zudem seine Anteilnahme im selben Augenblick verflöge, in dem er das Verschwinden des Blutkristalls entdeckte. Dies durfte nicht geschehen. Sie wollte das Vertrauen nicht enttäuschen, das Asher in sie gesetzt hatte. Wenn Mutter will, dass sie den Blutkristall hütet, dann soll es so sein. Sie werden sich gegenseitig schützen , hatte er gesagt, und weil er der Älteste der drei Geschwister war, hatte sich Kieran schließlich murrend gefügt.
    Vivianne bemerkte, dass Morgan auf eine Erklärung wartete. «Das regele ich alleine», sagte sie und erzählte eine frei erfundene Geschichte von kostbarem Brillantschmuck, den ihr eine Freundin samt Schatulle
in Verwahrung gegeben habe, damit sie ihn beim Juwelier unten im Haus reparieren ließe. Und weil ihr diese Erklärung selbst etwas fadenscheinig erschien, fabulierte sie rasch noch einen eifersüchtigen Ehemann hinzu.
    «Dann lass mich dir wenigstens helfen.» Seine Stimme klang, als wäre er selbst erstaunt über diese freundlich gesprochenen Worte, und Vivianne nahm das Angebot hastig an, bevor einer von ihnen es sich anders überlegen konnte. Obwohl sie nicht sicher war, ob er nur die Leiche entsorgen oder sie auch bei der Suche nach dem
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